Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
wieder davonlief.
Seume musste aus Seume ›den Seume‹ erst machen. Das bewerkstelligte er mit den Geschichten, die er von und über sich erzählte: in seiner Lyrik, in seiner Prosa, in den journalistischen Arbeiten und in seinen Briefen. Was er dort erzählt, ist oft ziemlich abenteuerlich. Nicht nur, weil sein Leben wirklich reich an Abenteuern war, sondern auch wegen der nicht sehr zuverlässigen Art, von ihnen zu berichten. Dies kontrastiert mit seiner Selbstinszenierung als unerschütterlicher Mann der Wahrheit, der mit freier Stirn, offenem Herzen und ohne Geheimnis in der Mannesbrust durchs Leben schreitet.
Das eine wie das andere hat ihn manchen seiner Zeitgenossen suspekt gemacht und ist heute der Grund für die Entheroisierung der ›Figur‹ Seume durch die germanistische Forschung. Doch ist der Sockel, auf dem die Heldengestalt des freimütigen republikanischen Wanderers auf der Stelle tritt, so niedrig, dass der denkmalstürzende Eifer komische Züge hat – kurioserweise ausgerechnet Züge jenes komisch seumischen Ernstes, der seine Sache stets mit finster zusammengezogenen Brauen verfolgt.
Was Jupiter darf, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Die Selbstinszenierung des Olympiers Goethe hat für Generationen von ›Bildungsbürgern‹ orientierend gewirkt. Die ästhetische Konstruktion persönlicher Autonomie war für das politisch machtlose mittlere Bürgertum überaus verführerisch. Zumal für das Ausweichen in ökonomische Kompensation das große Geld fehlte. Zur Akkumulation des kulturellen Kapitals genügte ein mittleres Einkommen. Es musste nur sicher sein. Diese Art von politisch gehemmter und wirtschaftlich beschränkter Saturiertheit im Sozialen war der Lebensrahmen des deutschen Bildungsbürgertums. In diesen Rahmen passte kein Vorbild so gut wie das des abhängig tätigen Geheimrats und zugleich frei schöpferischen Menschen Goethe.
Eine Randfigur wie Seume indessen war den Saturierten wegen seines Mangels an Saturiertheit fragwürdig. Eine solche Gestalt ließ sich ins bürgerliche Lebensbild nur integrieren, indem man sie halb bestaunte, halb bedauerte. In ihr personifizierte sich eine ›Reinheit‹ im Denken und ›Unschuld‹ im Leben, die man sich selbst nicht leisten konnte. Man wollte fortkommen – nicht weglaufen wie Seume.
Die Zumutungen der Authentizität machten aus Seume eine Art ›edlen Wilden‹ des Literaturbetriebs. Seume hat an diesem Bild eifrig mitgemalt. Er führte dabei einen recht breiten Pinsel. Das Beiwort »huronisch«, mit dem er sich öfter schmückte, gehörte zur Kriegsbemalung in seinem literarischen Daseinskampf. Von fern bewundert, rief das Bild aus der Nähe betrachtet manchmal Enttäuschung hervor. Auf die Enttäuschung folgten Klagen, auf die Klagen die Anklagen. Ausgerechnet bei dem, der Selbstinszenierung besonders nötig hatte, fand man die Inszenierung des Selbst unverzeihlich. Aber die Legenden, die Seume in Wort und Tat, in Vers und Prosa von sich in die Welt setzte, waren für ihn Waffen in den Scharmützeln seiner sozialen und intellektuellen Existenz. Ebendies ist authentisch beim Fingieren von Authentizität.
Das Erfinden und Erfahren der eigenen Identität auf dem Lebensweg ist umso problematischer, je zerklüfteter sich die innere Landschaft zeigt. Seume hatte eine ausgesprochene – besser: ›ausgeschriebene‹ Vorliebe dafür, zu schildern, wie die Eingänge der Täler, die er auf seinen Reisen durchschritt, mit Kanonen zu bestreichen seien, um Eroberer abzuhalten. Zum Schutz seiner inneren Schluchten nahm er Zuflucht bei Feder und Tinte.
Erstes Kapitel
Aufbrüche, Ausflüchte
Beschulter Bauernjunge – Entlaufener
Student – Desertierter Soldat – Entflohener
Lektor – Letzte Ausflucht Weimar
»Es ist doch ewig schade, dass ich nicht wie mein Bruder ein Schuster geworden bin, so hätte ich doch wenigstens nichts mit dem Ding Seele zu tun.«
– An seinen Freund Karl von Münchhausen, Juni 1792 –
»Ich bin ein junger Mensch, der in den Jahren steht, wo man mutige Unternehmungen ausführen, wo man Erfahrungen lernen kann und soll.«
– An seinen Förderer Graf Hohenthal nach der Flucht aus Leipzig, 2. Mai 1782 –
»Ich bin jetzt preußischer Soldat, und Entwürfe zu einer anderen Zukunft, schon den Gedanken daran, macht mir meine Pflicht zum Verbrechen.«
– An seinen Förderer Dorfpfarrer Benjamin Traugott Schmidt, Sommer 1786 –
»Eben schnalle ich zusammen und gehe«.
– An seinen Chef, den Verleger
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