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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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jetzt schwachen Arme zu schwer, er musste einige Mal die große Wiese verlassen. Ich erinnere mich, daß einige entmenschte Seelen, wie es deren überall gibt […] ihre bittergroben Bemerkungen darüber machten, als sie ihn vor der Haustüre auf der Schwelle mit einem kleinen Knaben, meinem jüngsten Bruder, spielen sahen. Der gute Mann wischte sich die Augenwinkel und legte sich lange einsam in den entlegensten Teil des Gartens. Nach drei Tagen lag er auf der Bahre. […] Dieser Vorfall vorzüglich ist mit Ursache meiner folgenden tief konzentrierten nicht selten finster mürrischen Sinnesweise. Ich habe die Katastrophe nie los werden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe.«
    Die Fronarbeit gehörte zu jenen Privilegien, die vom Adel in allen europäischen Ländern mit Zähnen und Klauen, mit Petitionen und Peitschen verteidigt wurden. Selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in einzelnen Ländern konnten die adligen Gutsherren Hand- und Spanndienste fordern. Die Zwanghaftigkeit, mit der Seume dieses »Privilegium« später gegeißelt hat, ist nicht bloß eine persönliche Marotte oder die Fixierung auf einen sogenannten ›Misstand‹ unter vielen, sondern das sozialpsychologische Resultat einer persönlichen, politischen und sozialen Demütigung. Und die dieser Demütigung zugrunde liegenden Standesinteressen waren auch die Interessen des Mannes, dem Seume zugleich dankbar zu sein hatte: Graf Friedrich Wilhelm von Hohenthal zu Städteln, der ihn Ostern 1777 in die Stadtschule von Borna und bei deren Rektor Johann Friedrich Korbinsky in Kost schickte.
    Zwei Jahre später wechselte Seume auf die Nicolaischule in Leipzig und mietete sich bei deren Rektor Georg Heinrich Martini ein.
»Ich war bei dem Rektor in Wohnung und Kost und Holz verdungen; erhielt aber meinen Speiseteil durch die Magd auf mein Zimmer. Das wollte mir schon nicht behagen und schien mir illiberal: denn bei Herrn Korbinsky in Borna war ich wie ein Kind vom Hause mit allen übrigen gehalten worden.«
    Der mittellose Junge vom Land, den der Graf in die Stadt und auf die Schule schickt, will nicht von der Magd auf seinem Zimmer verköstigt werden, sondern möchte einen Platz am Tisch des Hausherrn. Die Bevorzugung führt zur Erkenntnis der Benachteiligung. Die Bildung, die man dem Bauernjungen wegen seiner Begabung ausnahmsweise zugutekommen lässt, löst ihn aus seiner sozialen Herkunft heraus, fügt ihn in der Gegenwart aber noch nicht ein in das, was als soziale Zukunft erst erkämpft werden muss. In der Familie ist er der vielversprechende Sohn, der nicht nur die Eierschalen der Kindheit, sondern auch die bäuerliche Erde seiner Herkunft abschüttelt; in der Stadt, in der Schule, beim Rektor ist er ein hergelaufener Bauernjunge, der trotz der gräflichen Förderung erst noch beweisen muss, ob er den Katzenplatz am Tisch der höheren Bildung auch verdient. Lernt er zu wenig und zu langsam, ist er ein Tölpel und Faulpelz; lernt er zu schnell und zu viel, ist er überambitioniert und bildet sich Wunder was ein. So kann er es niemandem recht machen, nicht einmal sich selbst, denn die eigenen Wertmaßstäbe und der Maßstab des eigenen Werts müssen erst noch entwickelt werden. Wenn das endlich gelungen ist, werden sie um so nachdrücklicher verteidigt, was bei Seume später zur Abgrenzung der Ehre vom Ruhm führt, der Ehre vor sich selbst, und dem Ruhm bei den anderen. Die hybrideste Verkörperung dieses Ruhms ist Napoleon, die ehrlichste Ehre dagegen schreibt Seume in seiner Publizistik sich selber zu.
    Das mit dem Schulbesuch verbundene Hinaustreten aus dem Familienkreis bedeutet nicht automatisch das Hineintreten in die Bildungskreise. Die intellektuelle Emanzipation wird mit Einsamkeit bezahlt, und die besten Freunde heißen nicht Hans oder Michael, sondern Ovid und Tacitus. Den einen in der Hand, studierte er die »Liebeskunst«, den anderen in der Tasche, floh er von der Universität. Das freud- und freundlose Sich-Eingrübeln, das von etlichen Bildungsaufsteigern am eigenen Leib erfahren und am eigenen Leben beschrieben wurde, wird in Seumes Autobiographie thematisiert, wenn auch nicht in der einschnürenden Intensität wie im Anton Reiser seines Zeitgenossen Karl Philipp Moritz.
    Noch Seumes brieflicher Stoßseufzer an Freund Münchhausen, wäre er nur Schuster wie sein Bruder geworden, dann müsste er sich nicht mit der Seele abplagen, rührt her von der inneren Unruhe des aus seinen Herkunftsverhältnissen

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