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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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dieser persönlich gemochten, politisch befehdeten Aristokraten – litt unter diesem Konflikt.
    Davon war noch nichts zu spüren, als Seume vom Pfarrer Schmidt entdeckt und von Graf Hohenthal gefördert wurde. Er konnte von Glück sagen – und tat das in der posthum erschienenen Autobiographie Mein Leben auch – nach dem Tod des Vaters von zwei Stützen der Gesellschaft in Obhut genommen zu werden.
    Als Seumes Vater 1776 starb, war Johann Gottfried dreizehn Jahre alt. Der Vorname Gottfried rührte nach eigener Auskunft vom Hubertusburger Frieden her, mit dem – gut zwei Wochen nach seiner Geburt am 29. Januar 1763 – der Siebenjährige Krieg zu Ende ging. Dieser Krieg, an dem alle europäischen Staaten vom Königreich Schweden bis Österreich-Ungarn, vom zaristischen Russland bis zum Frankreich der Bourbonen beteiligt waren, hatte den Aufstieg Preußens zur kontinentalen Großmacht bestätigt; und zugleich den Abstieg Sachsens zur machtpolitischen Drittrangigkeit. Beides war gewissermaßen ein kontinentaler Nebeneffekt des globalen Krieges, in dem England und Frankreich um ihre Weltmachtstellung kämpften. Und dieser Kampf endete nicht mit dem Hubertusburger Frieden. Er ging in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über, und Seume selbst verschlug es trotz seines friedlichen Vornamens 1782 nach Halifax im heutigen Kanada. Aufgrund eines Subsidienvertrages, der fast auf den Tag genau dreizehn Jahre nach Seumes Geburt geschlossen wurde, hatte der hessische Landgraf an England 17 000 Soldaten für dessen Kolonialkrieg zu liefern. Hätte es diesen Subsidienvertrag nicht gegeben, wäre Seume nicht nach Amerika gekommen, sondern vielleicht nach Metz, wo er statt der theologischen Fakultät eine Artillerieschule besuchen wollte. Die Weltgeschichte dominiert immer die Lebensläufe. Das gilt nicht nur für den ›underdog‹ Seume, sondern auch für den sechs Jahre jüngeren Napoleon, dessen Heroenehrgeiz ohne die Französische Revolution wohl in Maulbeerpflanzungen auf Korsika verkümmert wäre.
    Von all dem konnte Johann Gottfried nichts ahnen, als 1776 sein Vater Andreas starb. Die Mutter brachte die damals sechsköpfige Familie nur mit Mühe durch. Die Seumes waren kleine Leute, doch gehörten sie nicht zu den Armen. Der Vater hatte landwirtschaftlichen Grundbesitz im sächsischen Poserna, den er 1770 wegen verschiedener Zwistigkeiten mit Pfarrer (!) und Landadel (!) verkaufte, um in Knautkleeberg bei Leipzig den Gasthof Weißes Ross mit dazugehöriger Landwirtschaft zu pachten. Vielleicht rührt daher Seumes im Spaziergang nach Syrakus ausführlich dokumentiertes Interesse für Wirtshäuser, das Caroline Herder so abgestoßen hat; und es ist ein böser Zug des Schicksals, den vielgereisten Seume, dessen erstes großes Abenteuer mit der Verschiffung nach Halifax begann, am Ende zum Sterben ins Gasthaus Goldenes Schiff zu legen.
    Das von Andreas Seume gepachtete Land gehörte zum Gut Lauer, das später von Graf Hohenthal erworben wurde. 1770/71 kam es in Brandenburg und Sachsen zu einer Hungersnot. Das Kurfürstentum Sachsen hatte in Seumes Geburtsjahr rund 1 635 000 Einwohner, 50 000 weniger als vor dem Siebenjährigen Krieg. Auch Anfang der 70er Jahre waren die Wehen und Nachwehen des Krieges noch nicht überwunden. Schlechte Ernten, die noch schlechtere Verwaltung der Reserven und die in Mangelsituationen üblichen Getreidespekulationen ließen die Brotpreise explodieren. Die Familie Seume überstand die Krise halbwegs, doch schmolzen die Ersparnisse zusammen.
    1773, im Jahr der Boston Tea Party – wiederum ein welthistorisches Glied in Seumes persönlicher Schicksalskette, denn hätten die Bostoner Kolonisten den Tee nicht ins Meer geschüttet, um gegen die Steuerpolitik des Mutterlands zu protestieren, wäre der hessisch-englische Subsidienvertrag nicht geschlossen und der kleine Sachse nicht nach Halifax verschifft worden –, im Jahr 1773 lief die Pacht des Gasthofes aus, und Vater Andreas erwarb weiteres Land, mit dessen Bewirtschaftung jedoch Frondienste verbunden waren. Eine diesbezügliche Passage aus Mein Leben ist überaus aufschlussreich, und zwar im Wortsinn, denn sie schließt das auf, was Seume selbst für die seelische – und soziale! – Ursache seiner Verschlossenheit hielt:
»Mein Vater hatte […] eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Ackern Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Frohne, die er selbst verrichten musste […] Die Sense war seinem

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