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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Höhenkammliteratur gehören, aber doch zu schade sind, um einfach vergessen zu werden. Während über die Größe der Großen eine Einigkeit besteht, die von persönlicher Sympathie für Werk und Autor unabhängig ist, hängt bei den Kleineren viel davon ab, ob ihr literarisches Image den persönlichen Tod überlebt und wie lange ihr Werk der Nachwelt gefällt.
    Wie groß war Seume? Ziemlich klein – was sein körperliches Format betrifft. Die verschiedenen Schätzungen schwanken zwischen eins fünfzig und eins dreiundsechzig. Er selbst erzählt in seiner Autobiographie Mein Leben , wie die Mutter erschrak und der Dorfpfarrer sich kaputtlachte, als er mit dem Wunsch herausrückte, ausgerechnet Grobschmied werden zu wollen.
»Du bist ja nur ein Zwerg und sinkst mit Hammer und Zange vor dem Amboß zusammen wie ein Taschenmesser, sagte der gutmütige Pfarrer.«
    Wie groß war der »Zwerg« also, nachdem er sich ausgewachsen hatte? Das hängt von der Fußgröße ab. Nicht von der Seumes, sondern von der in den hessischen und preußischen Maßeinheiten. Ein hessisches Fußmaß betrug 28,8 Zentimeter, ein preußisches 31,3 Zentimeter. In einer im Staatsarchiv Marburg befindlichen Regimentsliste wird Seumes Größe mit »5 Fuß 2 Zoll 2 Strich« angegeben. Bei hessischen Füßen ergibt das etwa eins fünfzig, bei preußischen eins dreiundsechzig.
    Mit eins fünfzig wäre er nicht nur weit vom Gardemaß entfernt geblieben, sondern auch unter der je nach Soldatenbedarf herab- und heraufgesetzten Mindestgröße der Rekruten. Mit eins dreiundsechzig wäre er immerhin dem »kleinen Corporal« nahegekommen, wie in der »großen Armee« der von ihm verabscheute Napoleon genannt wurde.
    Aber Napoleons Größe ist ebenfalls umstritten; nicht nur die Körpergröße, die gemessen an den Zeit- und Leibverhältnissen seiner Epoche vermutlich so gering gar nicht war, sondern auch die historische.
    Historische Größe hängt nicht vom Maß der eigenen Zeit ab, sondern von der Perspektive der Nachwelt: Von unserem Knirpstum, wie man sagen könnte, und wie der (große) Historiker Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen geschrieben hat: »Unsern Ausgang nehmen wir von unserem Knirpstum, unserer Zerfahrenheit und Zerstreuung. Größe ist, was wir nicht sind.«
    Seume war kein Napoleon, auch keiner der Literatur. Wie groß also war er wirklich? Niemand würde ihn einem ›Olympier‹ wie Goethe an die Seite stellen, der unter einem ganz anderen Stern geboren wurde, wie es so selbstbewusst wie selbstgefällig zu Beginn von Dichtung und Wahrheit berichtet wird. Auch würde (und möchte) man ihn nicht mit einem Wieland oder Herder vergleichen, um nur die Weimarer Granden zu nennen; mit einem Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt vielleicht schon eher, obwohl ein Vergleich des armen Seume mit ›Vater Gleim‹ um 1800 ziemlich bizarr gewirkt hätte. Heute wiederum wäre es bizarr, von Schülern zu verlangen, sie sollten sich mit Gedichten Gleims langweilen, während Seumes Prosa immer noch gedruckt und gelesen wird, nicht bloß zu Lehr- und Forschungs-, sondern auch zu Lebens- und Unterhaltungszwecken.
    Seume selbst dreht seinem Publikum den Rücken zu. Die Titelseite des Spaziergang in der Ausgabe von 1803 ziert eine Vignette des Landschaftsmalers Johann Christian Reinhart, den Seume während seiner Reise nach Sizilien in Rom kennengelernt hatte. Dieses Vor-Bild zeigt Seume von hinten. Die Rückenfigur lässt heutige Betrachter an die romantischen Wehmutsbilder von Caspar David Friedrich denken, in denen der Mensch allein und in sich gekehrt in die Natur gestellt ist.
    Reinhart wusste später nur wenig Beifälliges über Seume zu sagen, aber seine Skizze des Tornistermanns wurde zur Seume-Ikone schlechthin. Gebannt in den Umriss des Klischees vom einsamen Pilger läuft der schmalschultrige Wanderer mit Stock und Hut seit über zweihundert Jahren durch die Phantasie seiner Leser und Anhänger. Deren sind nicht wenige, wie man anhand der Klickzahlen der Website seume.de nachrechnen kann.
    Ist Seume also ein Vorbild? Seume ist vor allem Seume, und weil Menschen keine Pelzkappen oder Schimmel sind, sollte man das nicht für eine Selbstverständlichkeit halten. Herder konnte – selbstverständlich – an Moses Mendelssohn schreiben: »Ich werde, was ich bin!« Für Seume, der nichts war und alles erst werden musste, wurde dieses Werden zu einer Herausforderung, der er ein Leben lang hinterherschrieb und vor der er immer

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