Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
mit seinen »Consorten« in der Lage war, einen Autor zu ›machen‹, wie das schon damals im Literaturgeschäft zu geschehen pflegte. Aber Caroline Herders heftige Ablehnung hatte nichts damit zu tun, dass sie etwa ihren literarisch längst etablierten Mann gegen einen neuen Star oder ein neues Sternchen hätte verteidigen müssen. Es ging ihr um Haltung und Würde. Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte sie auch nicht verstanden, wie man so viel Wesens um den verzappelten Karl Philipp Moritz machen konnte, diesen hergelaufenen Kerl. Damals war der Verfasser des psychologischen Romans Anton Reiser und Herausgeber des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde eine Zeit lang in literarischen Damenkreisen und -kränzchen en vogue. Solche Leute, die ihre Persönlichkeit erst erkämpfen mussten, betrachtete sie als »Subjekte«, was aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt bedeutet: Unterworfene. »Subjekt« und »Individuum« waren im Amtsdeutsch der Obrigkeit, zu der Carolines Mann als Generalsuperintendent gehörte, Vokabeln, mit denen man Dienstboten, Handlanger und Bauerntölpel titulierte, oder Herumtreiber, entlaufene Studenten und desertierte Soldaten – Leute wie Seume eben. Caroline hatte ein erstklassiges – und das mit der Klasse ist wörtlich zu nehmen –, ein erstklassiges Gespür für die Ressentiments kultureller Emporkömmlinge, für deren oft übererregtes Verlangen nach Anerkennung durch Aufnahme in die besseren Kreise.
Als Seume nur wenige Jahre nach dem Erfolg von Spaziergang nach Syrakus im Wettlauf mit dem Tod an Mein Leben schrieb, begann er mit dem Satz:
»Das Missliche einer Selbstbiographie kenne ich so gut als sonst irgend jemand; und ich halte mich für nicht wichtig genug, dass überhaupt mein Leben beschrieben werde.«
Das ist rhetorische Koketterie, gewiss, doch führt der halbberühmt gewordene Schriftsteller gleich danach die Autorität von ganz berühmten an und nennt dabei an erster Stelle ausgerechnet:
»Herder, Gleim, Schiller und Weiße und mehrere noch Lebende haben mich aufgemuntert, nach meiner Weise die Umstände meines Lebens, das sie wohl für wichtiger hielten, als es war, schriftlich niederzulegen.«
Wer andere als Bürgen für die Wichtigkeit seines Lebens nötig hat, so hätte Caroline das wohl gesehen, kann nicht aus eigenem Recht auf das Interesse der Öffentlichkeit zählen. Doch auf das Publikum wirkt bis heute gerade das anziehend, was Caroline so abstieß. Die von ihr diagnostizierte »Arroganz« und »Gemeinheit« empfanden und empfinden viele Leserinnen und Leser als aufrichtig und ›authentisch‹.
Auch dies zu Unrecht. Wie jeder Schriftsteller (einschließlich derer, die über andere schreiben) hat Seume seine Texte formiert. Und er hat mit ihnen fingiert, auch wenn er an ihnen selten lange herumgefingert hat. Dazu fehlte ihm die Zeit. Er lebte mal mehr, mal weniger vom Schreiben und deshalb mal besser, mal schlechter von der Hand in den Mund.
Der Weg vom Leben zur Literatur, vom Herzen zur Hand führt über den Kopf. Beim schreibenden Erinnern verändert sich das Material, das für Schriftsteller wie Seume das eigene Leben ist. Und je geringer die Autorschaft an diesem Leben, desto wichtiger die Autorschaft an dessen Beschreibung. Je weniger ›selbstbestimmt‹, wie man heute sagt, das Leben ist, desto bestimmter muss die Selbstbeschreibung sein. Je weniger selbstverständlich (und sich selbst verständlich) das Ich im Leben, desto nötiger die Selbstbehauptung in der Literatur. Seumes von Caroline Herder so mitleidlos verhöhntes »Großtun im Nichts« war nackte Notwehr.
Was gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt. Vom Manuskript zur Druckseite kann sich der Sinn eines Textes dramatisch verändern. Was der Schriftsteller aus der Hand gibt und der Leser in die Hand nimmt, scheint manchmal kaum noch etwas miteinander zu tun zu haben. Der akademische Ausdruck für dieses Phänomen ist ›Rezeption‹. Die ›Seume-Rezeption‹ hat den Schriftsteller nach seinem Tod zum poetischen Spitzwegerich idyllisiert, zum ›curieusen‹ Kauz mit Räuberschnurrbart, in dessen schmaler Brust trotz allen Grimmigtuns ein empfindsames Herz schlug. Diesem Kitschbild ist sogar Carolines Zerrbild im Zorn noch vorzuziehen.
Im Englischen gibt es den wenig schmeichelhaften Ausdruck minor poet . Dieses Etikett klebt auf der Schublade, die eine so ungeduldige wie pedantische Literaturgeschichtsschreibung aufzieht, um Schriften unterzubringen, die nicht zur sogenannten
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