Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Georg Joachim Göschen, am 6. Dezember 1801, dem Tag seines Aufbruchs nach Syrakus –
»Sonst schnallte ich meinen Tornister und ging; jetzt musste ich erst zwei vierfüßige Tiere und ein zweibeiniges in Bewegung setzen …«
– Ausflucht nach Weimar , niedergeschrieben im Mai 1810 –
»Lieber Freund! Bleib zu Hause«. Mit diesen Worten beginnt Seumes erster gedruckter Text, das Schreiben aus America nach Deutschland . Dabei waren die Unterbrechungen, Aufbrüche und »Ausflüchte«, wie Seume es mit einer Wendung sagte, die damals noch nicht nach Ausrede klang, die eigentliche Kontinuität in Seumes Leben. Die Gewissheit, an Ort und Stelle und immer an seinem Platz bleiben zu müssen, hätte ihn erdrückt. Vor lauter Angst, sich festzulegen und von anderen festgelegt zu werden, waren auch seine Versuche, ein Amt zu ergattern, eher halbherzig – was ihm manche zum Vorwurf machten. Hätte es mit einem der Mädchen geklappt, in die er sich im Lauf seines Lebens verliebte, wäre es vielleicht anders gekommen. Aber vielleicht hätte es, wenn es anders gekommen wäre, mit einem der Mädchen trotzdem nicht geklappt und Seume wäre nicht zu Hause geblieben, sondern aus der Ehe früher oder später ausgebrochen.
Den Schriftsteller Seume gäbe es nicht, wäre der Mensch Seume nicht immer auf dem Sprung gewesen. Er wäre kein Soldat geworden, wäre er als Student in Leipzig geblieben; und er wäre nicht der »Spaziergänger nach Syrakus« geworden, hätte er als Lektor in Grimma ausgeharrt. Das Buch, das ihm bis heute das literarische Überleben sichert, ist ein Losschreiten und Fortrennen in Worten und Sätzen, als würde beim Schreiben das Blatt brennen, so wie beim Wandern der Boden unter den Füßen gebrannt zu haben scheint.
Wie er sein Lebensabenteuer begonnen hat, so beendete er es auch – mit einem Aufbruch. Er starb nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Bett, aber das Sterbebett stand nicht zu Hause. Und bevor jener endgültige Aufbruch kam, von dem keiner zurückkehrt und niemand berichtet, raste er mit der Kutsche durch Sachsen und schrieb darüber seinen letzten Text: Ausflucht nach Weimar .
Der beschulte Bauernjunge
Bildung macht nicht unbedingt glücklich, vor allem dann nicht, wenn ihr die Selbstverständlichkeit fehlt, wenn man sie geschenkt bekommt, dafür untertänig dankbar zu sein hat und doch immer um sie kämpfen muss.
Im 18.Jahrhundert hatte ein Kleine-Leute-Kind wie Seume nur in Ausnahmefällen eine Chance, mehr als nur das absolut Notwendige zu lernen: Den Namen schreiben, bis zehn zählen und die Gebote aufsagen. Ging der Bildungsweg darüber hinaus, hatte meist ein Pfarrer die segensreiche Hand im Spiel. Entdeckte ein Dorfpfarrer ein besonders begabtes Kind, gab es Bibelunterricht und Lateinstunden, auf die Lateinstunden folgte die Lateinschule, auf die Lateinschule Oberschule oder Gymnasium, aufs Gymnasium das Theologiestudium, aufs Theologiestudium früher oder später die Pfarrstelle in einem Dorf, wo das ehemals vom Dorfpfarrer entdeckte und geförderte Kind nun seinerseits als Dorfpfarrer besonders begabte Kinder entdecken und fördern konnte.
So ähnlich ging es auch mit Seume – oder wäre es gegangen, hätte sich der junge Mann nicht aus dem ungeliebten Leipziger Theologiestudium davongestohlen. Dass er überhaupt nach Leipzig kam, hatte er erstens dem Pfarrer Schmidt zu verdanken, ebenjenem, der sich über den Grobschmied als Berufswunsch so amüsierte, und zweitens dem Grafen von Hohenthal. Der Pfarrer und der Graf waren die ersten beiden von einer ganzen Reihe von Ersatzvätern, die Seume sein Leben lang suchte und auch zu finden wusste. Persönlich war Seume diesen ›Standespersonen‹ dankbar. Publizistisch hat er die Priester und Aristokraten heftig bekämpft. Die Bildung, die er nicht als selbstverständliches Recht, sondern als Ausnahme und Privileg genoss, setzte ihn später in die Lage, die Ausnahmen und Privilegien in seinen Schriften anzuprangern. Die dabei zutage tretende, besser gesagt: zu Buche schlagende Heftigkeit hatte damit zu tun, dass man in solcher Lage die persönliche Dankbarkeit abschütteln muss, um seine politische Überzeugung ausdrücken zu können. Auf Menschen, die den Identitätsriss, der damit verbunden ist, nicht an der eigenen Seele erfahren haben, wirkt das haltlos, undankbar und überhaupt wenig sympathisch. Seume hat das zu spüren bekommen, und seine schwierige Lebensfreundschaft mit dem Freiherrn von Münchhausen – wieder einer
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