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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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wahrscheinlich den gleichen Job wie er.
    «Ich wollte eigentlich …»
    «FuckYouHilas sind das, keine Männer», unterbrach Jacek ihn.
    Sein polnisches Lachen war eine Neutronenbombe. Es ließ die deutsche Angst wie die Sorge um das mühsam angesparte Auto zu Staub zerrieseln. Jacek hatte immer Schwierigkeiten gehabt, sich in seine Opfer hineinzuversetzen. Gemäß dem polnischen Männlichkeitskult galt es als verachtenswert, die eigene Freiheit für staatliche Fürsorge hinzugeben. Polnische Männer müssen kämpfen. In diesem beinahe kindischen Stolz riskieren sie maßlos viel, aus Lust an der Geste. Die polnischen Kavalleristen, die Napoleon auf dem Weg nach Russland begleiteten, ritten vor seinen Augen in den reißenden Fluss und ertranken. Mit Argumenten darf man ihnen gar nicht kommen, sonst trumpfen sie erst richtig auf. Und alles Staatliche muss weggefegt werden, sowieso.
    Jacek hatte ihm nicht nur die Verachtung für bürgerliche Sicherheit beigebracht, sondern auch ganz praktische Dinge. Worauf man bei der Fahrgestellnummer achten muss und wie man erkennt, ob sie verändert worden ist. Und wie man ein Auto knackt. Das hatten sie geduldig an den alten Karosserien auf dem Autohof in Schöneberg geübt. Konrad war handwerklich völlig unbegabt, über die leichteren älteren Modelle war er nicht hinausgekommen. Er schaffte es gerade so, eine Schnur mit Schlaufe oder einen langen Draht hinter die Fahrertür zu ziehen. Bei einigen Modellen braucht man die Verkleidung der Zündverkabelung nicht aufzubrechen, sie lassen sich mit einer polnischen Münze starten, dem Grosz, Gegenwert ein Pfennig, den man in das abgenutzte Zündschloss steckt.
    «Sei vorsichtig in Kiew, mit den Russen», mahnte Jacek.
    «Ukrainer», korrigierte Konrad.
    «Egal, die sind alle verrückt.»
    1993 hatte ein Soldat der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte seinen besten Freund erschossen, weil der ein Auto nicht rechtzeitig geliefert hatte. Seitdem konnte man mit Jacek über dieses Thema nicht mehr reden.
     
    Das Wort «verrückt» hatte neulich auch Muschter benutzt. Kein Wort ist unschuldig. Wolfgang Muschter war auf den ersten Blick das Gegenteil von Jacek. Ein umgänglicher, schlanker Mittvierziger im meist anthrazitgrauen Anzug, Leiter der Kfz-Schadensregulierung der Versicherung, für die Konrad arbeitete. Irgendwann hatte er ihm den ersten Auftrag anvertraut – anvertraut war das richtige Wort, denn Konrad besaß nicht die geringste Erfahrung. Ein Autodiebstahl in einer Kleinstadt an der polnischen Ostsee. Er war hingefahren und hatte den Fall durch einen glücklichen Zufall nach zwei Tagen aufgeklärt, ein Betrugsfall.
    «Verrückte Sache», hatte Muschter gesagt, als er ihm gestern den neuen Auftrag erteilt hatte. «Das sind keine kleinen Autodiebe mehr.»
    Sie saßen in den schwarzen Sesseln einer Hotellobby in der Budapester Straße, Konrad ließ seinen Blick zur Rezeption schweifen.
    «Was meinen Sie?»
    «Der Fall hat einige unerklärliche Besonderheiten. Normale Auftraggeber und Diebe handeln zum Beispiel rational. Da kennen wir die Gründe, die Abläufe, es gibt wiederkehrende Muster. Irgendjemand will ein bestimmtes Modell, zahlt fünfzig bis sechzig Prozent des Zeitwertes für den Wagen und gibt eine Bestellung auf. Die Banden sind Profis. Sie kalkulieren ihr Risiko und führen den Auftrag aus. Deshalb werden sie so selten geschnappt. In diesem Fall haben wir Indizien, dass einiges anders gelaufen ist als sonst.»
    «Wem wurde der Wagen gestohlen?»
    «Den Namen kann ich nicht nennen.»
    Muschter schob ihm die Akte über die polierte Tischplatte und ließ ihn einen kurzen Blick darauf werfen, nach wenigen Sekunden zog er sie wieder zurück.
    «Vorstandsmitglied eines deutschen Konzerns. Die Sache ist deshalb delikat, weil dieser Mann sich den Wagen sehr wahrscheinlich hat stehlen lassen.»
    «Warum?»
    «Sie wissen doch. Der Mensch ist unersättlich. Dieser Vorstand hat auf einmal nicht mehr wie früher jedes Jahr das neueste Mercedesmodell bekommen, sondern nur noch alle zwei Jahre. Kennen Sie sich in den Typen aus? Der Mercedes 500   SE der Baureihe W 140 kam 1991 auf den Markt. Zwei Tonnen schwer, mehr als fünf Meter lang, anderthalb Meter hoch, Kugelumlauflenkung, hydraulische Zweikreis-Bremsanlage mit Unterdruck-Bremskraftverstärker und innenbelüfteten Scheibenbremsen, über zweihunderttausend Mark teuer. Den bekam er 1993 . Haftpflicht und Kasko bei uns, wie bei der gesamten Fahrzeugflotte des Konzerns.

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