Der Wald der Könige
Pride in aller Seelenruhe zu Werk und ließ sich Zeit. Die Besorgnis und Verärgerung seiner Frau entlockte ihm nur ein Schmunzeln.
Umso größer war seine Überraschung, als seine Frau plötzlich einen Schreckensschrei ausstieß. Er blickte auf und sah, dass sich zwei Reiter näherten.
Für die weißliche Hirschkuh war es ein gemächlicher Morgen gewesen. Noch einige Stunden nach Sonnenaufgang graste sie mit ihrem Rudel auf einer ungeschützten Lichtung.
Es waren alles Ricken mit ihren Kitzen, denn die männlichen Tiere hatten sich um diese Jahreszeit bereits vom Rudel abgesondert. Bei einigen Weibchen wiesen die leicht angeschwollenen Flanken darauf hin, dass sie bereits trächtig waren und in etwa zwei Monaten werfen würden. Die Kitze, die ihren Müttern nicht von der Seite wichen, waren inzwischen entwöhnt. Bei den männlichen Jungtieren waren schon die Höcker zu sehen, aus denen sich später im Jahr das erste Geweih entwickeln würde, die kleinen Spitzen, die den Spießer auszeichnen. Bald würden die jungen Männchen ihre Mütter verlassen und sich ihr eigenes Revier suchen.
Einige Stunden vergingen. Die Vögel stimmten ein melodisches Gezwitscher an, in das sich, als es immer wärmer wurde, das leise Surren, Brummen und Summen der zahlreichen Insekten des Waldes mischte. Der Vormittag war bereits zur Hälfte verstrichen, da schritt die älteste Hirschkuh, die Anführerin des Rudels, auf die Bäume zu und teilte ihren Artgenossinnen damit mit, dass es Zeit war, sich zur Mittagsruhe zurückzuziehen.
Hirsche haben feste Gewohnheiten. Im Frühjahr sondern sie sich zuweilen auf der Suche nach den besten Leckerbissen vom Rudel ab und ziehen zu den Getreidefeldern am Waldesrand. Hin und wieder springen sie auch nachts wie lautlose Schatten über die Zäune, um die Gärten von Bauern wie Pride zu plündern. Doch die alte Hirschkuh war eine vorsichtige Anführerin. In diesem Frühjahr hatte sie erst zweimal das anderthalb Quadratkilometer große Gebiet verlassen, das dem Rudel als Revier diente. Die jüngeren Weibchen, so wie unsere weißliche Hirschkuh, mochten noch so unruhig sein, sie würde ihnen keine Gelegenheit geben, ihre Abenteuerlust zu befriedigen. Deshalb nahmen sie den gleichen Weg wie immer zu ihrem Ruheplatz, einer hübschen, geschützten Lichtung im Eichenwald, wo sich die Hirschkühe gehorsam in ihrer üblichen Haltung niederließen, mit untergeschlagenen Beinen, aufrechtem Kopf, den Rücken der leichten Brise zugewandt. Nur ein paar rastlose junge Männchen sprangen übermütig umher, stets gefolgt vom wachsamen Auge der Leitkuh.
Die weißliche Hirschkuh hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als sie wieder an den Bock denken musste.
Er war ein hübscher junger Bursche, auf den sie schon bei der letzten Brunftzeit im Herbst aufmerksam geworden war. Damals war sie noch zu jung gewesen, um sich an dem Treiben zu beteiligen, doch sie hatte bereits miterlebt, wie die geschlechtsreifen Weibchen sich vergnügten. Auch er hatte mit einigen anderen jungen Männchen ein wenig abseits zugesehen. Nach der Größe seines Geweihs zu urteilen war er in diesem Jahr sicher bereit, sich selbst ins Getümmel zu stürzen.
Sicher war er noch jung. Die Hirschkuh wusste nicht, woher er stammte, denn die Böcke machten sich für gewöhnlich von ihren Revieren in anderen Teilen des Waldes aus auf den Weg zum Brunftplatz. Würde er sich im kommenden Herbst wieder am selben Platz einfinden? Würde er groß und stark genug sein, um seine Rivalen aus dem Feld zu schlagen? Sie wusste gar nicht, warum er ihr so besonders aufgefallen war. Sie hatte die riesigen Böcke mit ihren mächtigen Geweihen, den kraftvollen Schultern und den angeschwollenen Hälsen gesehen. Die Hirschkühe scharten sich eifrig um ihre Brunftkuhlen, wo ihr scharfer Geruch in der Luft lag, so stark, dass es die weißliche Hirschkuh fast schwindelig machte. Doch beim Anblick des jungen Bocks, der geduldig gewartet hatte, hatte sie etwas anderes empfunden. In diesem Jahr würde sein Geweih größer, sein Körper kräftiger sein, aber sein Geruch hatte sich gewiss nicht verändert. Sein unwiderstehlicher, für sie so köstlicher Duft. Und wenn die Brunftzeit begann, würde sie sich auf die Suche nach ihm machen. Sie betrachtete die in der Morgensonne schimmernden Baumwipfel und dachte an ihn.
Und plötzlich war der Schrecken da.
Das Geschrei der Jäger, schneller als der Wind, der vielleicht ihren Geruch zu den Hirschen hinübergetragen
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