Der Wald der Könige
verloren. Als sie sich beim Hinstarren ertappte, wandte sie den Blick sogleich ab und schmunzelte in sich hinein, denn soeben war ihr ein ungebührlicher Gedanke gekommen: Im Adamskostüm sahen diese beiden jungen Männer sicherlich hinreißend aus.
Kurz darauf ging die Sonne über den Wipfeln der Eichen am Horizont auf, und die Jagdgesellschaft, insgesamt etwa zwanzig Personen, machte sich auf den Weg.
Das Tal des Avon, das sie nun verlassen wollten, war ein malerisches Gebiet. Über die Jahrhunderte hatte sich der Fluss zwischen den niedrigen Kiesbänken, auf denen mittlerweile Bäume wuchsen, einen breiten, flachen Weg nach Süden gegraben. Fast unmerklich hatte sich dazwischen fruchtbares Schwemmland angesammelt. Zwischen Fordingbridge und Ringwood war das Tal etwa drei Kilometer breit. Auch wenn der Fluss, der sich träge durch die üppigen Felder schlängelte, verglichen mit früheren Zeiten eher einem Rinnsal ähnelte, trat er nach dem Frühlingsregen gelegentlich über die Ufer und bedeckte die umliegenden Wiesen mit einer funkelnden Wasserfläche, so als wolle er die Welt daran erinnern, dass er von alters her Anspruch auf dieses Land hatte.
Adela war noch nie Mitglied einer solchen Jagdgesellschaft gewesen, und deshalb war sie sehr aufgeregt und neugierig. Sie wusste, dass ihr Ziel gleich jenseits des östlichen Randes des Avontals lag. Und da sie unbedingt dieses wilde Gebiet erkunden wollte, von dem sie schon so viel gehört hatte, hatte sie heute darum gebettelt, mitkommen zu dürfen. Bald erreichten sie den Fuß des Berges und passierten einen Bach und eine einsam dastehende alte Eiche. Sie führten ihre Pferde einen gewundenen, von Bäumen und Gebüsch gesäumten Pfad hinauf. Adela bemerkte immer mehr nackte Kiesel auf dem Weg, je höher sie kamen.
Dennoch schnappte sie vor Erstaunen nach Luft, als sie die Bergkuppe erklommen hatten. Plötzlich hörte der Wald auf, rings um sie herum waren der Horizont und der offene Himmel zu sehen, und sie fühlte sich, als wäre sie in eine andere Welt geraten.
Adela de la Rôche hatte es sich ganz anders vorgestellt. Vor ihr, so weit das Auge blickte, erstreckte sich die riesige, braune Heide. Die Sonne, die immer noch niedrig am Himmel stand, vertrieb mit ihren gelblichen Strahlen allmählich den Morgennebel, der sich in Fetzen wie Spinnweben über das Land zog. Der felsige, mit Farnen und Heidekraut bewachsene Abhang, an dem sie standen, fiel zu beiden Seiten steil nach unten ab. Zu ihrer Linken endete er an einem Sumpf, rechts an einem kiesigen Bach, an dessen Ufern Gras wucherte. Stechginster leuchtete gelb aus dem Heidekraut hervor, und auf einem anderen Abhang, etwa anderthalb Kilometer entfernt, ragten einige Stechpalmen in den Himmel.
Und noch etwas war merkwürdig an dieser Landschaft. Als Adela die torfige Erde betrachtete, auf der der Huf ihres Pferdes stand, sah sie, dass die Steine dort strahlend weiß leuchteten. Wieder hob sie den Kopf und schnupperte, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass sich ganz in der Nähe das Meer befinden musste, obwohl sie es nicht sehen konnte.
Gab es in dieser riesigen, kargen Wildnis menschliche Siedlungen, Weiler, Höfe oder Katen? Ganz sicher verhielt es sich so, doch sie konnte nichts dergleichen entdecken. Menschenleer, still und urwüchsig lag die Landschaft da.
Das war also der New Forest, den König Wilhelm der Eroberer eingerichtet hatte.
Forest ist ein Begriff, der aus dem Normannischen stammt und damals mehr als nur Wald bedeutete, obwohl sich innerhalb seiner Grenzen riesige Wälder befanden. Bei einem königlichen Forst handelte es sich um ein abgetrenntes Gebiet – ein Reservat sozusagen –, in dem der König auf die Jagd ging. Vor allem die Hirsche wurden durch strenge Gesetze geschützt. Wer einen Hirsch des Königs erlegte, verlor die Hand oder sogar das Leben. Und da der normannische Eroberer das Land erst kürzlich in Besitz genommen hatte, wurde es New Forest – Nova Foresta im Latein der offiziellen Urkunden – genannt.
Das Gebiet, das er als New Forest beanspruchte, war ziemlich groß. Es erstreckte sich vom Avontal aus fast dreißig Kilometer bis zu einem großen Meeresarm. Von Nord nach Süd fiel das Gelände mehr als dreißig Kilometer lang sanft und terrassenförmig ab und reichte von den Kreidefelsen nördlich von Sarum bis zu einer wilden Marsch an der Küste des Ärmelkanals. Die Landschaft war abwechslungsreich, ein Flickenteppich aus Heide, Wäldern, Wiesen und
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