Der Wald der Könige
Sümpfen. Schon seit vielen Jahrtausenden wurde sie von Menschen durchstreift, die Lichtungen gerodet hatten und dann wieder weitergezogen waren. Der Boden war zum Großteil torfig und sauer und deswegen nicht sehr fruchtbar. Doch hie und da gab es auch ertragreichere Erde, die sich für den Ackerbau eignete. Die größten Eichenwälder lagen am südlichen Rand, meist auf Moorboden, und waren wahrscheinlich schon seit über fünftausend Jahren nicht mehr betreten worden.
Und dann verfügte der New Forest noch über ein weiteres Merkmal, das Adela ganz richtig bemerkt hatte: Das Meer war ganz in der Nähe. Oft trugen die warmen Südwestwinde einen leichten Salzgeruch selbst in den nördlichen Teil des New Forest. Das Wasser selbst war jedoch erst zu sehen, wenn man den Eichenwald verließ und auf die Küstenmarschen hinaustrat. Allerdings gab es auch einen sichtbaren Hinweis. Denn vor der Ostküste des New Forest, abgetrennt durch einen viereinhalb Kilometer breiten Meeresarm namens Solent, erhob sich die hübsche Insel Wight mit ihren Kreidefelsen. Und vom richtigen Aussichtspunkt, selbst von den Felsen unterhalb Sarums aus konnte man über den gesamten New Forest bis zur Insel blicken, die im rosigen Dunst auf der anderen Seite des Wassers lag.
»Hör auf zu träumen! Sonst verlieren wir dich noch.«
Walter war es, wie seine Miene verriet, peinlich, dass sie unwillkürlich innegehalten und die anderen vorbeigelassen hatte, um die Aussicht zu genießen.
»Tut mir Leid«, sagte sie. Sie setzten ihren Weg fort, Walter trabte mit wichtigtuerischer Miene neben ihr her.
Adela betrachtete ihn eingehend. Wie war es Walter mit seinem gelockten Schnurrbärtchen und den etwas dümmlich dreinblickenden, blassblauen Augen bloß gelungen, sich überall beliebt zu machen? Wahrscheinlich lag es daran, dass es sein einziger Lebenszweck war, sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln. Sicher waren selbst seine einflussreichen Schwiegereltern froh, ihn in der Familie zu haben. Denn da er sich niemals auf die Seite der Verlierer geschlagen hätte, musste das heißen, dass er sich für sie Siegeschancen ausrechnete. Und in diesen unruhigen Zeiten war ein solcher Schwiegersohn nicht zu verachten.
Im Reich der Normannen waren politische Intrigen an der Tagesordnung. Nach König Wilhelms Tod vor etwa zwölf Jahren war sein Erbe unter seinen Söhnen aufgeteilt worden. Wilhelm, auch Rufus genannt, hatte England bekommen; Robert hatte die Normandie erhalten; der dritte Sohn Heinrich bezog nur eine Apanage. Doch wie selbst Adela wusste, war die Lage gespannt. Die großen Familien besaßen oft Güter sowohl in England als auch in der Normandie. Aber während Rufus ein fähiger Herrscher war, konnte man das von Robert nicht behaupten. Viele glaubten, dass Rufus eines Tages auch die Normandie übernehmen würde. Dennoch hatte auch Robert seine Fürsprecher. Eine große normannische Familie, der einige Ländereien an der Küste des New Forest gehörten, unterstützte ihn angeblich. Und was war mit dem jungen Heinrich? Hatte er sich wirklich mit seinem Schicksal abgefunden? Weiterhin kompliziert wurde die Lage dadurch, dass weder Rufus noch Robert geheiratet und einen Erben gezeugt hatten. Doch als Adela arglos ihren Vetter fragte, wann der König von England sich wohl endlich vermählen würde, zuckte Walter nur die Achseln. »Wer weiß?«, antwortete er. »Er bevorzugt junge Männer.«
Adela seufzte leise. Ganz gleich, wie sich die Dinge auch entwickeln mochten, Walter würde sich schon rechtzeitig auf die Gewinnerseite schlagen.
Auf der Heide kam die Jagdgesellschaft rasch voran. Gelegentlich bemerkte Adela Grüppchen gedrungener Ponys, die sich an Gras oder Ginsterbüschen gütlich taten. »Die gibt es überall im New Forest«, erklärte Walter. »Sie scheinen zwar wild zu sein, doch viele von ihnen gehören den Bauern in den Weilern.« Die Ponys waren hübsche Tiere, und Adela entdeckte so viele von ihnen, dass sie ihre Anzahl im gesamten New Forest auf mehrere Tausend schätzte.
Cola und seine Söhne führten den Zug an. Der König hatte nicht nur zu seinem Vergnügen den New Forest den Hirschen vorbehalten. Natürlich war die Pirsch mit Pfeil und Bogen ein angenehmer Zeitvertreib, und man konnte außer Hirschen auch Wildschweine und sogar Wölfe jagen. In Wahrheit aber erfüllte der New Forest einen sehr praktischen Zweck. Der König, sein Hofstaat, seine Soldaten und zuweilen auch seine Seeleute wollten ernährt werden. Sie brauchten
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