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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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nichts zu sehen. Er würde den Brunnen zuschaufeln, als wäre nie etwas gewesen. Da war kein Brunnen. Und dann legte er den schweren Brunnendeckel auf. Holte einen Eimer und ging hinunter zum Bach, zu dem sauberen, rieselnden Wasser, wusch sich die Arme und das Gesicht und trug Wasser hinauf zur Hütte und scheuerte den Fußboden mit Seife. Scheuerte, bis alles weg war. Wusch die Axt ab, ehe er sie zurück in den Schuppen trug. Nichts ist geschehen. Ich war allein hier. Bin immer allein gewesen. Er nahm seinen Rucksack und schloss ab, bevor er ging. Er hörte ein Geräusch aus dem Brunnen, als er den Pfad hinunterging. Ein ganz schwaches Heulen. Hörte das Heulen noch einmal. Aber er ging nicht zurück. Er ging in den Wald hinein. Suchte und rief. Robin? Robin! Glaub nur nicht, du kannst vor mir weglaufen. Ich finde dich doch, mein Kleiner.
    Aber bald hörte er auf zu rufen, denn es hätte ja jemand in der Nähe sein können. Bald hörte er auch auf zu suchen, denn was sollte er mit dem Jungen anfangen, falls er ihn tatsächlich fand? Konnte er ihn nach allem, was er gesehen hatte, am Leben lassen? Konnten sie zusammenleben? Oder musste er tun, was er in der Hütte nicht fertiggebracht hatte? Würde er es jetzt fertigbringen? Einfach weggehen war das einzig Richtige. Denn kein Kind kann in dieser Wildnis überleben, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand fand, war minimal. Der Wald würde ihm die Arbeit abnehmen, die er nicht hatte vollenden können. Es würde auf ganz natürliche Weise passieren. Das war am besten so. Er hatte keine Mutter mehr, und sein Vater – pfui Teufel, was für ein Vater.
    Er kehrte auf dem Pfad um, sah nach vorn und nicht zurück, ging hinunter zum Auto, fuhr in die Stadt. Räumte die Wohnung auf, packte die letzten Sachen zusammen. Er weinte, obwohl er es nicht verdiente. Weinte, als er die Bilder und das Fotoalbum wegwarf, das Kinderbett und die Spielsachen, die kleinen Kleidungsstücke. Und ihm kamen Zweifel, sollte er vielleicht wieder zurückfahren und nach ihm suchen, den Wald durchkämmen, den Jungen finden und auf den Arm nehmen, ihn an sich drücken, ein solcher Vater sein, wie er nie gewesen war? Aber das, was das Kind gesehen und er getan hatte, konnte niemand ungeschehen machen. Er sagte sich, dass er den Jungen nicht mochte. Nie gemocht hatte, denn es war vermutlich nicht einmal sein eigenes Kind. Und der Junge mochte ihn auch nicht. Besser, dem jetzt ein Ende zu machen. Schluss, für immer. Weg.
    Er verbiss sich das Weinen, als er ihre Kleider in den schwarzen Müllsack stopfte. Der hellblaue Angorapullover wirkte so leer ohne ihre Arme darin, aber in dem geblümten Kleid hing immer noch ihr schwacher Duft, stieg ihm in die Nase, hüllte sein Gesicht ein. Und er sah das Bild vor Augen, wie sie in der Hütte auf dem Fußboden lag, in Stücke zerbrochen. Der Blick über dem Blut. Die Augen. Ein Bild, das er mit einem anderen Bild vertrieb: als sie das Kleid zum letzten Mal anhatte – an einem warmen Sommertag vor langer Zeit. Sie waren im Frognerpark spazieren gegangen, hatten sich in den Herregårdskroen gesetzt. Hatten Weißwein bestellt, obwohl es erst Mittag war. Hatten kichernd die Flasche geleert. Wie sie gelacht hatte. Ihre Augen, ihr Lächeln, der leuchtend rote Mund. Er wünschte, er könnte im Duft des Kleides ertrinken. Wirklich ertrinken. Aber das konnte er nicht, und er dachte, dass er sich einen Gewehrlauf in den Mund stecken sollte, sich eine Kugel durchs Hirn jagen, die ein Loch quer durch die Finsternis dort drinnen bohrte, durch das Kranke, Schwarze. Eine Sprengladung, die ihm den verdammten Schädel wegblies, die dem Ganzen ein Ende machte.
    Stattdessen fiel er über ihre Bilder her. Warf sie auf den Boden. Zerbrach die Blindrahmen, riss die buntbemalten Leinwände ab, zerfetzte sie. Bis sie in einem wüsten Haufen auf dem Boden lagen. Ein jämmerlicher, lächerlicher Haufen Lumpen.
    Er stopfte die Sachen ins Auto und fuhr im Morgengrauen zur Müllkippe in Grønmo. Dort blieb er eine Weile und beobachtete, wie ihre Sachen mit dem anderen Müll vermischt wurden, dem stinkenden Abfall aus den Mülllastern, die hereinkamen und das, was ihr gemeinsames Leben gewesen war, mit dem Zeug anderer Leute vermengten. Bis nichts mehr übrig war. Hinterher fuhr er den Wagen zum Schrottplatz. Auch hier wartete er und sah zu, wie das Auto flachgedrückt und zerstört wurde, bevor er den Bus zurück in die Stadt nahm. Er ging ins Reisebüro am Nationaltheater und kaufte

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