Essen mit Freunden - Roman
âCantuccini
Am Anfang war das Ei.
Natürlich war am Anfang das Ei, weil bekanntlich alle Geschichten mit einem Ei beginnen â bis auf jene Geschichten, die mit einem Huhn anfangen. Aber das mit dem Huhn, hatte Luise beschlossen, müsste bei ihr noch ein bisschen warten. Mit einem Ei zu beginnen fand sie einfach und überschaubar, da alles, was so anfängt, im Grunde genommen demselben Rezept folgt: Man nehme ein Ei und trenne Eiweià und Eigelb voneinander. Das Eigelb vorerst zur Seite stellen, dann das Eiweià zu einem steifen Schnee schlagen.
Luise gefiel es, wie das durchsichtige Eiweià seine Farbe und Konsistenz veränderte und zu einer reinweiÃen Masse mit Stabilität wurde, die selbst dann noch in der Schüssel haftete, wenn man sie kopfüber hielt. Manchmal wünschte sich Luise für ihr Leben diesen Eischnee-Effekt. Dass sie nicht ins Schwanken geriete, wenn sie mal wieder herumgewirbelt wurde, sondern ihre Kontur behielt. Nur hier, jetzt, in diesem Moment, mit dem Mixer in der Hand, fühlte sie sich stabil, fast so wie Eischnee, denn ihre Hände wussten von selbst, was zu tun war, ohne dass sie lange darüber nachdenken musste. Es waren immer wieder dieselben Bewegungen, zigmal ausgeführt.
Der Mixer rotierte. Das Geräusch beruhigte sie. Sie war sich sicher, dass sie etwas Sinnvolles tat, etwas Gutes, so etwas Ãhnliches wie Zaubern. Es war fast eine Art Meditation für sie. Sie lieà das Eiweià tropfen, das Eigelb flieÃen,
den Zucker rieseln. Beim Geruch der Vanille wurden ihre Schultern weicher, und sie bemerkte zufrieden, dass der Zauber wirkte: Irgendwann zwischen Eischnee und Vanilleduft waren ihre Gedanken zur Ruhe gekommen.
Das Mehl, die Mandeln, die Knethaken â und weiter. Der Mixer bewegte sich schwerfällig. Luise freute sich darauf, die Finger in den Teig zu stecken und mit den Händen Rollen zu formen. Gut, dass er so klebte. Gut, dass es kein Hefeteig war. Hefe kneten war für sie wie Hautstreicheln, weiche, warme Haut. Aber daran wollte sie nicht denken. Nicht an Haut und nicht ans Streicheln.
Beim Backen von Cantuccini sind zwei Dinge wichtig: die Konsistenz des Teigs und die Dauer der Backzeit. War der Teig zu trocken, wurden die Cantuccini zu bröselig; blieben die Kekse beim Nachbacken zu lange im Ofen, wurden sie steinhart. Luise versuchte seit geraumer Zeit, die perfekten Cantuccini hinzubekommen, doch leider lieà sich die genaue Festigkeit von Keksen nicht in Kilopond messen. Sie schob die aufgeschnittenen Rollen zurück in den Ofen und schaute zur Uhr. Es war zehn nach sieben. O nein! Wenn die Kekse raus waren, blieb ihr nur noch eine Viertelstunde, bis Anne kam. Bis dahin wollte sie eigentlich fertig sein mit dem Huhn.
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Anne war inzwischen immer die Erste, die vor der Tür stand, denn seit sie in der Zeitungsredaktion arbeitete, trug sie eine Armbanduhr. Dreizehn Uhr war Drucklegung, fünfzehn Uhr dreiÃig Feierabend. Dann legte Anne die Uhr an ihrem Handgelenk zwar ab, doch innerlich tickte sie weiter. Früher, dachte Luise, war das kaum vorstellbar. Anne war für ihre »Ungefähr«-Zeiten und ihre »Ab«-Verabredungen
bekannt gewesen. Heute aber hieÃen bei ihr Verabredungen nur noch Termine.
Luise fragte sich, wie sie das früher gemacht hatten, als es noch keine SMS gab und sie sich nicht bei ihr zum Essen trafen, sondern ausgingen. Die Rollen waren damals klar verteilt gewesen. Luise war immer die Erste. Sie hatte geduldig an der Bar gewartet und sich die Zeit damit vertrieben, mit dem Barkeeper zu flirten. Genervt hatte sie das manchmal schon, aber es war nicht wirklich schlimm gewesen, denn mit ziemlicher RegelmäÃigkeit hatte sie wieder eine neue Telefonnummer erobert, da der Typ hinter der Bar ja nicht immer hinter der Bar stand, sondern auch mal frei hatte und eigentlich ganz nett war.
Fast eine Dreiviertelstunde nach Luise war dann Anne aufgetaucht, ein bisschen abgehetzt, ein bisschen schuldbewusst, weil sie sich nicht mehr genau erinnern konnte, welche »Ungefähr«-Zeit sie diesmal ausgemacht hatten. Und kurz nach ihr rauschte Sybille herein. Es war jedes Mal wie ein Auftritt. Da Annes dehnbarer Zeitbegriff allen bekannt war und ein Auftritt Publikum braucht, hatte Sybille auf Annes Verspätung immer noch eine Viertelstunde draufgelegt. Auch wenn es für Luises Geschmack stets eine Nuance zu laut, ein Quäntchen zu schrill war, hatte
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