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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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einen hohlen Skelettmund, wie von einem total unheimlichen Zombieskelett. Und vielleicht war das nicht bloß ein Filmtrick, vielleicht passiert so etwas ja auch in Wirklichkeit. Die Leute werden schließlich immerzu älter, und jetzt ist das auch mit Papa passiert. Er hat aus der roten Kanne getrunken, und das durfte er nicht, und auch wenn er kein Bösewicht ist, funktioniert es in der Wirklichkeit nicht wie im Film. Sie ist nicht genauso gerecht. In der Wirklichkeit können auch den Guten schlimme Dinge passieren.
    «Papa? Bist du das? Bist du wieder da?»
    Der Mann, der möglicherweise Papa ist, bleibt regungslos stehen. Nur sein Mund bewegt sich, geht auf und wieder zu. Jetzt ist ihm sicher schlecht, denkt Lukas und sieht, wie der Mann rückwärts auf die kaputte Schaukel zustolpert. Er ist schrecklich blass. So bleich werden die Leute normalerweise nicht.
    «Da bist du also», murmelt der Mann schließlich. «Du bist immer noch hier.»
    Lukas geht ein paar Schritte auf den Mann zu, und jetzt sieht er, dass es nicht Papa ist. Ganz sicher. Natürlich ist er es nicht.
    Wir hatten ein Kind, hatten es gemeinsam, es war allein unseres. Ich war nie untreu, nicht einmal in Gedanken. Bin bis heute niemals untreu gewesen. Bis ich jetzt eins werde mit der herausgeschaufelten Erde, so feucht und voller sprießendem Leben. Sie nimmt alles in sich auf, was ihr begegnet und sich vorbehaltlos bestäuben, befruchten lässt. Ohne das eine dem anderen vorzuziehen, ist sie bereit, jeden Samen zu empfangen, die gelbe Wolke aus Pollen. Falls du den Wunsch verspürst, mich zu umarmen, musst du dich flach auf die Erde legen.

[zur Inhaltsübersicht]
    37
    Ihm wird schwindlig. Er zittert, taumelt zurück. Versucht sich irgendwo festzuhalten, erwischt aber nur die Schaukel, die an einem morschen Seil hängt. Er fällt und bleibt liegen. Noch nie hatte er solche Kopfschmerzen. Noch nie hat er ihre Stimme lauter gehört. Es ist, als würde sie sein Hirn mit einer Stricknadel aufspießen. Mein Kind. Das Kind. Du sollst sterben für das, was du getan hast. Sterben vor Kummer.
    Das ist unmöglich. Das muss eine verdammte Halluzination sein. Aber das Gespensterkind sieht real aus. Die Kreatur sieht genau wie der Bengel aus. Mit dem Schmusekaninchen im Arm. Seinem geliebten Petter Kaninchen. Die Ausgeburt zwinkert mit den Augen, starrt ihn an.
    «Wer bist du?», fragt die Kreatur.
    Er zittert. Die Zunge fühlt sich an wie Schmirgelpapier.
    «Du siehst doch, wer ich bin», flüstert er und kriecht rückwärts über den Boden, stößt mit dem Hinterkopf an den Brunnenrand. Ausgerechnet. Die Strafe nimmt ihren Anfang. Wer er ist? Er weiß es jetzt. Hat es nie mit solcher Deutlichkeit gewusst. Er ist niemand. Ein Gesichtsloser. Wer nicht geliebt wird, hat nie existiert. Wer nie geliebt hat, existiert nicht. Aber ich habe sie geliebt, will er sagen. Elise, ich habe dich geliebt. Das zählt nicht, gilt nicht. Wenn man sie getötet hat. Zweimal getötet. Erst mit der Axt, dann im Brunnen. Dreimal getötet. Er hat den Jungen auch umgebracht, als er ihn im Wald zurückließ.
    «Wie heißt du?», fragt das Gespensterkind weiter und kommt ein wenig näher.
    Er will die Waffe heben, aber sein Arm gehorcht ihm nicht. Die Beretta in seiner Hand ist seltsam schwer geworden. Die Kreatur geht still auf ihn zu, starrt ihn aus diesen riesigen Augen an. Wer längst durch die Hölle gegangen ist, hat nichts mehr zu fürchten. Er hat sich in die Hose gepisst, es läuft warm an seinen Beinen herab. Verschone mich. Aber er schafft es nicht, die Lippen zu bewegen, die Worte bleiben stecken. Es wird ihn nicht verschonen, wieso sollte es auch?
    Er rollt sich auf die Seite, fasst die Waffe mit der anderen Hand, in der noch etwas Gefühl ist, hebt sie hoch, um dem Ganzen ein Ende zu machen. Mund, Kopf, Schläfe – was ist am besten? Aber er kriegt es nicht hin, schafft es nicht, dem Zeigefinger zu befehlen, den Abzug zu drücken. Und die Waffe sinkt ins Heidekraut, entgleitet ihm. Weg. Jetzt hat er nur noch die Streichhölzer. Kann das Ganze nur noch anstecken, sich selbst, sie, die Hütte. Das Ungeheuer da vor ihm. Das jetzt nur noch ein paar Schritte entfernt ist. Sein Herz rast, Kälteschauer jagen über den Rücken, der dröhnende Kopfschmerz, die Stimme im Kopf. Oder ist es die Kreatur, die spricht?
    «Bist du krank? Tut dir was weh?»
    Weh? Du weißt nicht, was Schmerzen sind.
    Der Junge glotzt mit seinen großen Augen. Er muss antworten, irgendwas sagen. Muss ihm

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