Der Wald wirft schwarze Schatten
ein Flugticket nach New York, one way. Anschließend rief er von einer Telefonzelle aus seine Mutter an. Wir fahren weg. Wir fliegen nach Amerika. Sie sagte nichts, zunächst. Also sprach er weiter, in bissigem Ton. Willst du uns nicht wenigstens gute Reise wünschen. Wir werden lange weg sein. Mach’s gut. Sie sagte: Warte. Und er wartete ein paar Sekunden, legte dann aber auf, ehe sie noch mehr sagen konnte.
Er leerte sein Bankkonto und packte die letzten Habseligkeiten in eine Reisetasche. Nur ein paar Klamotten, den Pass und Geld, dann checkte er in einem Hotel am Parkveien ein, um die letzte Nacht hier zu schlafen. Schlaf fand er nicht. Ging stattdessen hinaus, setzte sich im Schlosspark auf eine Bank. Aber es war, als wäre sie dort, neben ihm, als würde sie zu ihm sprechen. Er ging weiter zum Rådhusplassen, blickte aufs Meer hinaus, der Mond spiegelte sich im Wasser. Sie war auch hier.
Er wanderte ziellos umher, und als der Morgen heraufdämmerte, ging er zurück ins Hotel, holte seine Tasche und nahm den Bus zum Flughafen. Er dachte, dass jetzt sein neues Leben begann, ein Leben in Amerika. Denn dort war sie ja nicht, war nie dort gewesen. Dort gab es keine Erinnerungen. Er würde alles hinter sich lassen, ein anderer Mann werden. Und dieser Mann hätte nie tun können, was er getan hatte.
Er schlägt die Augen auf, sieht, dass er im Heidekraut liegt. Die Bäume um ihn herum stehen da wie riesige ihm zugewandte Gestalten. Der Himmel darüber färbt sich langsam blau, mit vereinzelten kleinen Wolken. Wenn der Benzingeruch nicht wäre, hätte es irgendwann vor langer Zeit sein können. Aber es ist hier und jetzt, und das gespenstische Kind ist immer noch da. Es beugt sich über ihn, starrt ihm ins Gesicht, bewegt eine kleine Hand auf seine Stirn zu. Jetzt kommt die Strafe.
«Geht es dir besser? Brauchst du etwas?»
Die Hand der Ausgeburt, die hätte kalt sein sollen, ist wunderbar warm. Die Hand streichelt seinen Kopf. Vorsichtig. Er merkt, wie durstig er ist. Schrecklich durstig.
«Willst du Wasser?», fragt der Gespensterjunge und lächelt auf völlig lebendige Art. Er läuft weg und kommt kurz darauf zurück, reicht ihm einen Becher. Aber seine Arme sind kraftlos, er kann ihn nicht entgegennehmen. Der Junge stützt seinen Kopf mit den Händen und hilft ihm zu trinken.
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38
Endlich wieder bei der Hütte. Erschöpft lehnt sich Robert gegen die Wand, ringt nach Luft, räuspert sich.
«Lukas?», keucht er.
Keine Antwort. Auf dem schmerzenden Fuß humpelt er in die Hütte. Niemand in der Stube. Er hinkt weiter in die Schlafkammer. Das Kind ist weg, das Bett leer. Er hastet wieder nach draußen.
«Lukas!», brüllt er.
Da kommt der Junge angelaufen. Robert hebt ihn hoch, kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.
«Drück doch nicht so fest, Papa.»
«Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.»
«
Du
warst doch plötzlich weg. Nicht weinen, Papa. Du hast ja wieder hergefunden.»
Lukas macht sich aus seiner Umarmung los. Als er vor ihm steht, fuchtelt er mit den Armen.
«Papa, du musst mitkommen, komm mal mit!»
Lukas läuft vor ihm in die Heide.
«Wie das hier stinkt», sagt Robert. «Das ist doch Benzin!»
«Hier ist ein Mann. Ich glaube, er ist ganz doll krank.»
Robert folgt Lukas in die Senke. Ein älterer Mann liegt ausgestreckt im Heidekraut, er ist bleich und atmet schwer. Seine Augen sind geschlossen. Das muss der Jäger sein, den er vom Hügel aus gesehen hat.
Robert beugt sich über ihn. «Hallo?», sagt er. «Hallo?»
Der Mann öffnet die Augen, sieht ihn an. Er starrt ihm ins Gesicht.
«Hören Sie mich?»
Der Mann antwortet nicht. Starrt sie nur an. Ihn, Lukas. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist es, als schaute Robert in sein eigenes Spiegelbild. Eine ältere Version seiner selbst.
«Guck mal, Papa, was er dabeihatte!»
Lukas hält plötzlich einen Revolver in der Hand.
«Holla», sagt Robert. «Gib lieber her.»
Lukas reicht ihm die Waffe. «Ich habe nicht damit gespielt.»
Ratlos hält Robert die Waffe vom Körper weg, bis ihm einfällt, dass er ja gelernt hat, wie man damit umgeht, als er in einer Krimiserie den Verbrecher spielte. Er nimmt das Magazin und die Munition heraus.
«Komischer Jäger», sagt Robert. «Was hatte er mit dem Ding vor?»
«Erst dachte ich, er würde auf mich schießen, und dann dachte ich, er würde auf sich selbst schießen. Aber dann hat er ihn einfach fallen lassen.»
Robert beugt sich wieder über den
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