Der Waldläufer
warf. Aber nach und nach schienen die Gedanken des jungen Mannes eine andere Richtung zu nehmen. Er saß einige Augenblicke in tiefe Gedanken versunken, die nur aus seiner zufälligen Schwäche entstanden waren, deren Ursprung Cuchillo aber – dessen Geist stets dem Verdacht zugänglich war – ganz anders ableitete.
»Ich weiß nicht, ob es nur eine Täuschung des Fiebers ist«, sagte Tiburcio, das Wort wieder ergreifend, »aber es schien mir in meiner Ohnmacht, während ich keine anderen Empfindungen hatte als die eines verzehrenden Feuers, in dem ich langsam verging, als ob ein süßes Antlitz sich über mich geneigt hätte; eine Stimme hat einige harmonische Worte in mein Ohr geflüstert; dann fühlte ich, daß eine wonnigliche Frische auf das Fieber folgte, das mich verbrannte, und seit diesem Augenblick empfand ich keine Schmerzen mehr. Ihr habt keine lebendige Kreatur in diesen Einöden bemerkt?« fragte zögernd der junge Mann, der noch fortzuträumen schien.
»Bah! Ist es weiter nichts?« fragte Cuchillo kühl.
»Ihr habt sie also gesehen?« rief Tiburcio lebhaft.
»Wen? Eine Frau? Ei, mein Gott, nein! Ihr habt sie eben nur zu sehen geglaubt! Was Ihr empfunden habt, ist nichts als der letzte Paroxismus des Todes vor Durst. Den Menschen, der so stirbt, überkommt im Delirium ein Gefühl, als ob er mit vollen Zügen trinke.«
Tiburcio schien nur mit Bedauern auf eine poetische Erklärung seiner Erscheinung zu verzichten, die sich fast immer in einem ähnlichen Fall wiederholt.
In diesem Augenblick begann das Pferd Cuchillos offenbare Zeichen des Schreckens von sich zu geben. Sein Haar sträubte sich, und es näherte sich seinem Herrn, als ob es bei ihm Schutz suchen wollte. Die Stunde nahte, wo die düstere Steppe sich mit nächtlicher Majestät kleidet. Schon heulten die Schakale von fern, als plötzlich ein rauher, rucksender Ton ihnen Stillschweigen gebot: die Stimme des amerikanischen Löwen.
»Horcht!« sagte Cuchillo.
Ein durchdringenderes Geheul erscholl von der anderen Seite.
»Es sind ein Puma und ein Jaguar, die sich den Leichnam Eures Pferdes streitig machen, Freund Tiburcio; und der Besiegte könnte wohl den Versuch machen, sich durch einen von uns zu entschädigen. Ich habe nur meine Büchse, und Ihr habt keine Waffen!«
»Ich habe meinen Dolch!«
»Das ist nicht genug. Steigt hinter mir auf mein Pferd, und machen wir, daß wir fortkommen.«
Tiburcio folgte dem Rat und verschob seinen Verdacht vor der gemeinsamen Gefahr; trotz der doppelten Last lief das Pferd Cuchillos blitzschnell davon, während das Knurren der beiden falben Bewohner der Steppe immer lauter und länger wurde.
7 Das Nachtlager im Wald
Noch lange trug das Echo das furchtbare Gebrüll, gemischt mit dem klagenden Geheul der Schakale, zu den Ohren der beiden Reiter. Diese gefräßigen Tiere verließen nur mit Bedauern den Raub, den sich die beiden Könige der Wälder Amerikas streitig machten. Plötzlich aber bewies ein Lärm anderer Art das Dazwischenkommen des Menschen in dieser Steppenszene. Wirklich hörte das Geheul plötzlich auf.
»Das war ein Büchsenschuß!« sagte Tiburcio. »Wer mag wohl Vergnügen daran finden, in diesen Einöden zu jagen?«
»Ohne Zweifel irgendeiner dieser amerikanischen Jäger, die wir von Zeit zu Zeit nach Arizpe kommen sehen, um ihre Vorräte an Otter- und Biberfellen zu verkaufen, und denen ein Jaguar oder ein Puma ebenso wie ein Schakal willkommene Beute ist.«
Nichts störte jetzt noch die feierliche Ruhe der Nacht. Die Sterne glänzten am Himmel, und kaum ließ ein frischerer Windhauch ein leichtes Murmeln im Eisenbaumgehölz vernehmen.
»Wohin bringt Ihr mich denn?« fragte Tiburcio nach einem ziemlich langen Schweigen.
»Nach der Poza, wo einige Freunde mich erwarten und wo wir die Nacht über bleiben werden; von da, wenn es Euch recht ist, weiter nach der Hacienda del Venado.«
»Nach der Hacienda del Venado?« erwiderte Tiburcio. »Ich gehe auch dorthin.«
Wäre es Tag gewesen, so hätte Cuchillo den jungen Mann bei diesen Worten erröten sehen können, denn eine Herzenssache zog ihn gegen seinen Willen zu der Tochter Don Agustins hin.
»Kann ich wissen«, fragte Cuchillo seinen jungen Begleiter, »welcher Beweggrund Euch nach der Hacienda führt?«
Tiburcio war verlegen bei dieser so einfachen Frage; aber man hat wohl schon bemerken können, daß Cuchillo nicht der Vertraute war, den er gewählt hätte. »Ich bin ohne Hilfsmittel«, antwortete er zögernd, »und will
Weitere Kostenlose Bücher