Der Wanderer
nicht, dass es höchst unschicklich für Schutzengel ist, sich am Stadttor zu streiten? Sagt mir, worüber seid ihr uneins?«
Da sprachen beide Engel auf einmal, und jeder behauptete, die ihm aufgetragene Arbeit sei die schwerere und ihm gebühre die größere Anerkennung.
Der Erzengel schüttelte den Kopf und ging mit sich zu Rate.
Dann sagte er: »Meine Freunde, ich wüsste jetzt nicht zu sagen, wer von euch den größeren Anspruch auf Ehre und Anerkennung hat. Aber da mir Macht verliehen ist, übertrage ich – um des Friedens und um der Sache willen und da jeder von euch darauf beharrt, des anderen Aufgabe sei die leichtere – jedem von euch des anderen Amt. Nun geht von hinnen und werdet glücklich mit eurer Arbeit.«
Die Engel gehorchten und gingen ihrer Wege. Doch jeder von ihnen wandte sich mit noch größerem Zorn zum Erzengel um. Und in seinem Herzen sagte jeder von ihnen: »Oh, diese Erzengel! Von Tag zu Tag machen sie uns Engeln das Leben schwerer!«
Der Erzengel aber stand da, und abermals sann er nach. Und er sagte in seinem Herzen: »Wir müssen wahrlich wachsam sein und eine schützende Hand über unsere Schutzengel halten.«
Die Statue
Einst lebte in den Bergen ein Mann, der eine Statue besaß, das Werk eines alten Meisters. Sie lag, das Gesicht nach unten, vor seiner Haustür, und er schenkte ihr keinerlei Beachtung.
Eines Tages kam ein Mann aus der Stadt am Haus des Mannes vorbei, ein Gelehrter, und als er die Statue sah, fragte er den Eigentümer, ob er sie verkaufen wolle.
Der Eigentümer lachte und sagte: »Und wer, bitte, würde dieses dumme, schmutzige Stück Stein kaufen?«
Der Mann aus der Stadt sagte: »Ich gebe Euch dieses Silberstück dafür.«
Und der andere Mann war verblüfft und hocherfreut.
Die Statue wurde auf dem Rücken eines Elefanten in die Stadt geschafft.
Nach vielen Monden besuchte der Mann aus den Bergen die Stadt, und als er durch die Straßen ging, sah er eine Menschenmenge vor einem Geschäft, und ein Mann rief mit lauter Stimme: »Tretet ein und bewundert die schönste, die herrlichste Statue der Welt! Nur zwei Silberstücke, um dieses wunderbare Meisterwerk anzusehen.«
Worauf der Mann aus den Bergen zwei Silberstücke bezahlte und das Geschäft betrat, um die Statue zu sehen, die er selbst für ein Silberstück verkauft hatte.
Der Tausch
Einmal begegnete ein armer Dichter einem reichen Dummkopf an einer Wegkreuzung, und sie kamen miteinander ins Gespräch. Und alles, was sie sagten, verriet nur ihre Unzufriedenheit.
Dann kam der Engel der Straße daher, und er legte den zwei Männern die Hand auf die Schulter. Und siehe, ein Wunder geschah: Die zwei Männer hatten jetzt ihre Eigentümer getauscht.
Und sie schieden voneinander. Doch so seltsam es auch klingen mag: Als der Dichter nachsah, fand er in seiner Hand nichts als trockenen, rieselnden Sand; und der Dummkopf schloss die Augen und spürte nichts als treibendes Gewölk in seinem Herzen.
Liebe und Hass
Eine Frau sagte zu einem Mann: »Ich liebe dich.« Und der Mann sagte: »Es ist mein Herzenswunsch, deiner Liebe würdig zu sein.«
Da fragte die Frau: »Du liebst mich nicht?« Doch der Mann blickte sie nur wortlos an.
Da rief die Frau laut aus: »Ich hasse dich.« Und der Mann sagte: »Dann ist es auch mein Herzenswunsch, deines Hasses würdig zu sein.«
Träume
Ein Mann träumte einen Traum, und als er erwachte, ging er zu seinem Wahrsager und bat darum, dass sein Traum ihm ausgelegt werde.
Und der Wahrsager sagte zu dem Mann: »Komm zu mir mit den Träumen, die du im Wachen schaust, und ich werde dir ihre Bedeutung erklären. Aber mit den Träumen deines Schlafes haben weder meine Weisheit noch deine Fantasie etwas zu schaffen.«
Der tolle Mensch
Im Garten eines Tollhauses begegnete ich einem Jüngling mit einem bleichen, schönen, von Verwunderung erfüllten Gesicht.
Und ich setzte mich zu ihm auf die Bank, und ich fragte: »Warum bist du hier?«
Und er sah mich erstaunt an, und er sagte: »Dies ist eine ungehörige Frage; doch ich werde dir antworten. Mein Vaterwollte mich zu seiner Kopie machen; ebenso mein Onkel. Meine Mutter wünschte sich mich als das Ebenbild ihres berühmten Vaters. Meine Schwester hielt mir ständig ihren Gatten, einen Seemann, als leuchtendes Beispiel vor. Mein Bruder meint, ich sollte sein wie er: ein großer Athlet.
Und meine Lehrer ebenso, der Doktor der Philosophie und der Maestro und der Logiker, auch sie wussten es ganz genau, und jeder hätte sich
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