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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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zerschundenen, nackten, vierzehnjährigen Junge um Hilfe gebeten, der vor dem Serienmörder Jeffrey Dahmer geflohen war. Doch Dahmer gelang es, den Beamten einzureden, dass der Junge sein neunzehnjähriger Freund sei und sie sich nur gezankt hätten. Die Polizei ließ daraufhin beide gehen, und in den folgenden Monaten ermordete Dahmer den Jungen und mehrere andere. Mitte der Neunzigerjahre vermasselte die belgische Polizei zahlreiche Gelegenheiten, Marc Dutroux festzunehmen, den berüchtigten Anführer einer Bande von Mördern und Pädophilen. Selbst als die Polizisten in seinem Keller Kinderstimmen hörten, unternahmen sie nichts. Wie Vacher wurde auch Dutroux festgenommen und freigelassen, sodass er mit seiner Mordserie beginnen konnte.
    Stünde Vacher heute vor Gericht, wäre die verwendete Terminologie wohl eine andere, aber das Urteil würde wahrscheinlich »schuldig« lauten. Der Mann, den Lacassagne als »blutrünstigen Sadisten« bezeichnete, würde heute als Psychopath gelten, als ein Mensch ohne Gewissen und Einfühlungsvermögen, der ohne zu zögern tötet, das Leid seiner Opfer nicht wahrnimmt (»Meine Opfer haben nie wirklich gelitten«, sagte Vacher) und sich sogar selbst als Opfer fühlt (»Hier kommt das Opfer der Fehler, welche die Heilanstalten begangen haben«). Psychopathen sind selten. Wenn ein Therapeut einen solchen Menschen in einem Gefängnis oder in einer Klinik antrifft, bittet er andere Mitglieder des Personals darum, ihn genau zu beobachten. Wie eine antisoziale Persönlichkeitsstörung gilt auch die Psychopathologie nicht als Geisteskrankheit, sondern als tief verwurzelter Teil des Charakters. »Wenn du neben einem Psychopathen sitzt, merkst du es«, sagte eine bekannte Kriminalpsychologin zu mir. »Du spürst, dass er eine leere Schale ist. «
    Wer die eidesstattlichen Erklärungen und Zeugenaussagen zum Fall Vacher liest, erkennt die prototypische Entwicklung eines Psychopathen: Als Kind quälte er Tiere, später wechselte er ständig seine Jobs, prügelte sich mit anderen, trank zu viel, bildete sich eine Beziehung zu einer Frau ein, versuchte sie zu töten, als sie ihn abwies, und begann schließlich mit einer Mordserie, die sich über Jahre hinzog, ohne je von Schuldgefühlen oder Reue geplagt zu werden. Er befindet sich in bester Gesellschaft mit anderen psychopathischen Mördern, die alle für schuldfähig erklärt wurden. Dennoch ist sein Fall ungewöhnlich, weil er offenbar nicht nur eine psychopathische Persönlichkeit hatte, sondern zusätzlich an einer Geisteskrankheit litt, was Psychologen Komorbidität nennen. Die Ärzte in Dole und Saint-Robert erkannten Vachers Verfolgungswahn, seine akustischen Halluzinationen und seine Selbstmordneigungen. Diese Symptome deuteten auf Schizophrenie hin, eine Geisteskrankheit, die medizinisch behandelt werden kann und die periodisch stärker und schwächer wird. Schizophrene werden aber selten gewalttätig.
    Diese ungewöhnliche Kombination von Störungen könnte erklären, warum Dr. Dufour in Saint-Robert Vacher entließ, ohne zu ahnen, welche Tragödie er damit auslöste. Wahrscheinlich stellte Dufour die Symptome einer Schizophrenie fest, und es ist durchaus möglich, dass diese Symptome nach einer behutsamen, mehrmonatigen Behandlung in Saint-Robert vorübergehend abflauten oder dass Vacher wie andere Psychopathen seine Heilung vortäuschte, indem er sich unauffällig verhielt und schmeichlerische Briefe schrieb. Wie dem auch sei, wenn Dufour heute leben würde, wäre er erleichtert zu hören, dass er nicht unverantwortlich gehandelt hat, wenn man den damaligen Stand des Wissens berücksichtigt. Es war der Psychopath Vacher, der all diese Menschen umgebracht hat, und nicht der Schizophrene Vacher.
    Lacassagne würde sich ebenfalls freuen, denn trotz der Kritik, die seine Kollegen an ihm übten, hätten seine Argumente auch ein heutiges Gericht überzeugt. Die meisten Strafgesetzbücher erklären einen Täter nur dann für schuldunfähig, wenn er wegen einer Geisteskrankheit außerstande ist, die Unrechtmäßigkeit seines Handelns zu erkennen. Lacassagnes Analyse der Tatorte zeigte jedoch, dass Vacher sehr bewusst vorging: Er lauerte seinen Opfern auf, tötete sie geschickt, säuberte sich und floh sofort in einen anderen Gerichtsbezirk. Seine Behauptung, die Wut habe ihn überwältigt, würde auch heute einer psychologischen Prüfung nicht standhalten. Zahllose prügelnde Ehemänner haben das Gleiche beteuert und wurden dennoch

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