Der Wandermoerder
Zauberwerkstätten gelten. Populäre Fernsehsendungen wie CSI unterstützen diesen Mythos. Sie werden von Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesehen und zeigen hochkarätige Spezialisten, die mit ultramoderner Ausrüstung arbeiten und ihre Verdächtigen fast immer überführen. Typisch für diese Krimis ist eine Art Aha-Erlebnis, wenn ein ultramodernes oder gar fiktives technisches Hilfsmittel einen unlösbaren Fall aufklärt. Kriminalisten in den USA sprechen bereits von einem »CSI-Effekt« in Anspielung darauf, dass Geschworene, die im Fernsehen wissenschaftliche Perfektion erleben, von der Anklage im wirklichen Leben das Gleiche verlangen – andernfalls neigen sie zu einem Freispruch. Als Reaktion darauf benutzen sowohl Staatsanwälte als auch Verteidiger immer häufiger grafische Darstellungen, um ihren Standpunkt zu erörtern.
Die Realität ist aber meist wesentlich unspektakulärer. Wie zur Zeit Lacassagnes ist die Theorie viel weiter fortgeschritten als die tägliche Praxis. Viele forensische Labors kämpfen mit Problemen wie Personalmangel, Überlastung, unzulänglicher Ausrüstung oder schlecht ausgebildeten Mitarbeitern. Ein forensisches Labor in den USA hat im Durchschnitt einen Rückstau von über 400 Fällen, die seit mehr als 30 Tagen auf eine Analyse warten. Außerdem nähren neuere Studien Zweifel an einst als »unfehlbar« erachteten Verfahren wie Haarvergleichen, Bisswunden- und Handschriftanalysen und sogar Fingerabdruckvergleichen. In der Tat wurde mehr als die Hälfte der über 230 Menschen, die in den letzten Jahren nach einer DNA-Analyse freigelassen wurden, wegen eines fehlerhaften wissenschaftlichen Gutachtens oder wegen der Arbeit schlecht ausgebildeter oder unehrlicher Ermittler zu Unrecht verurteilt. Im Jahr 2009 hatte ein Ausschuss der amerikanischen Akademie der Wissenschaften so viel an der Präzision der modernen Forensik auszusetzen, dass er eine gründliche Neustrukturierung empfahl: neue Forschungsinstitute, um Methoden zu erforschen, zu entwickeln und zu evaluieren, eine bessere Ausbildung der künftigen Forensiker an der Universität und forensische Labors, die unabhängig von der Polizei arbeiten. Außerdem forderte er standardisierte Verfahren, an die alle Ermittler sich strikt zu halten hätten, so wie Lacassagne es mit seinem Vademecum versucht hatte.
Was nun das in Gips verewigte Gehirn des Mörders in Paris betrifft – welche Geheimnisse sind in seinen Lappen und Windungen verborgen? In der Vergangenheit finden sich immer wieder verschiedene Ansätze, die darauf abzielen, den kriminellen Geist besser zu verstehen. Zu Lebzeiten Vachers und auch danach wurden oft Fehler in den Erbanlagen für kriminelle Neigungen verantwortlich gemacht. Sie waren eine böse Saat, die von einer Generation an die nächste weitergereicht wurde. Die berühmte Jukes-Studie, 23 die in den 1870er-Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurde und 1914 in revidierter Fassung erschien, belegte anhand der Kriminellen innerhalb einer Großfamilie eine erbliche Vorbelastung. 1912 behauptete die Kallikak-Studie, man könne in einer Großfamilie über mehrere Generationen hinweg Geistesschwäche beobachten. Beide Studien stellten sich später als falsch heraus. Die Jukes waren gar keine einzelne Familie, und in der Kallikak-Studie waren Fotos retuschiert worden, um den »Schwachsinn« der abgebildeten Menschen zu betonen – allerdings erst, nachdem die Behörden viele »unerwünschte Einwanderer« in Ellis Island unter Berufung auf die Studie abgewiesen hatten. Die berüchtigten XYY-Studien in den 1960er-Jahren behaupteten sogar, dass es einen Zusammenhang zwischen kriminellem Verhalten und einem zusätzlichen Y-Chromosom gebe, so als wäre ein männliches Geschlecht bereits ein Indiz für eine Neigung zur Gewalt.
Erst seit Kurzem gibt es dank bestimmter bildgebender Verfahren, die es ermöglichen, in das lebende Gehirn zu blicken, ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass die Gehirnphysiologie bei der Gewaltkriminalität eine Rolle spielen könnte. Früher mussten Ärzte wie Broca vorgehen, der zuerst einen Patienten mit kognitiven Störungen suchte und später bei der Autopsie nach physiologischen Anomalien Ausschau hielt. Die Forschungen schritten mit der Verwendung des Elektroenzephalogramms (EEGs), wobei Gehirnwellen sichtbar gemacht werden konnten, und dem Studium der Neurotransmitter bei Labortieren weiter voran. Aber die Wissenschaft basierte zunächst immer noch weitgehend auf
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