Der Wandermoerder
wechseln zu dürfen. »Passen Sie auf, dass Sie nicht ausbrennen«, pflegte er ihnen zu raten. »Teilen Sie Ihre Energie gut ein. Nutzen Sie jede Chance im Leben, um möglichst lange und produktiv zu leben.«
Am 24. Februar 1924, im Alter von 80 Jahren, verließ er das Haus, um wie üblich spazieren zu gehen. Als er sich einer Brücke näherte, schleuderte ein Auto um die Ecke und erfasste ihn. Mehrere Monate lang litt er an einer Gehirnblutung, der er schließlich am 24. September erlag. Nachrufe priesen seine wissenschaftlichen und sozialen Leistungen, seine Weisheit und seinen überragenden Geist. »Er lebte wie eine heilige Flamme«, schrieb ein Kolumnist. In seinem Testament untersagte er Zeremonien und Ansprachen an seinem Grab. Stattdessen verfügte er, seinen Körper ins Institut für Rechtsmedizin zu bringen und auf den Tisch zu legen, an dem er viele Jahre lang gelehrt hatte. Dann sollten seine ehemaligen Kollegen und Studenten ihn obduzieren. Auf diese Weise, schrieb er ein letztes Mal, »hoffe ich, ihnen sowohl eine Lehre als auch ein Beispiel zu sein«.
Nachwort Das gewalttätige Gehirn
»Wissenschaft und Gesetz waren stets unsichere Verbündete.«
National Research Council, 2009
Der Gipsabdruck des Gehirns von Joseph Vacher liegt in einer Vitrine im siebten Stock eines Gebäudes der medizinischen Fakultät in Paris. Dieser Ort ist ein Überrest aus der ruhmreichen Zeit der anatomischen Museen. Damals pflegten Medizinstudenten und Gäste an den Ausstellungsstücken vorbeizuwandern und sie fasziniert und entsetzt anzustarren. Der Gipsabdruck ist in Gesellschaft von 15 anderen Gehirnen von »Helden der Guillotine«, aber auch von den Gehirnen mehrerer großer Intellektueller – Mitglieder der Mutual Autopsy Society wie Paul Broca – und von Monsieur Tan, dem Mann, dessen Unfähigkeit zu sprechen Broca zum Studium der Aphasie veranlasst hatte.
Heute besucht niemand mehr diese Präparate. Das Museum ist für das Medizinstudium nicht mehr nützlich, und die Gehirne liegen fast unbeachtet in einem Lagerraum. Vor einigen Jahren schloss die medizinische Fakultät das Museum offiziell und wollte den gesamten Inhalt wegwerfen. Aber die Kuratoren wurden bei der Regierung vorstellig und wiesen darauf hin, dass die Sammlung zum historischen Erbe der Nation gehöre. Also wurden die Gipsabdrücke der Gehirne aufgehoben.
Es ist ein eigenartiges Gefühl, sich Vachers Gehirn in dem Bewusstsein zu nähern, was sein Eigentümer alles angerichtet und welche Kontroversen er ausgelöst hat. Es ist grau, hat etwa die Größe einer Kanonenkugel aus dem 18. Jahrhundert und ist erstaunlich schwer – immerhin besteht es ja aus Gips und nicht aus menschlichem Gewebe. Die Windungen scheinen ungewöhnlich dick zu sein, was zu unwissenschaftlichen Ideen über die Primitivität des ehemaligen Besitzers Anlass gibt. Eine tiefe Furche trennt die rechte und die linke Hirnhälfte. Hinten erweitert sie sich zu einem Dreieck, durch das man das Dach des Kleinhirns sehen kann. In diese Fläche ritzte der meisterhafte Schöpfer des Abdrucks die Worte »Vacher: moulé à Lyon« – Vacher, geformt in Lyon.
In den Jahren nach der Herstellung der Gipsabdrücke hat die Forensik ein Niveau erreicht, von dem Lacassagne und seine Zeitgenossen nicht einmal träumen konnten. Eine Leiche enthüllt heute mehr Indizien als je zuvor, und Labortests liefern Informationen über die Blutgruppe, die Elektrolyte, den Zustand der Organe sowie Spuren von Drogen, Giften, Viren und Bakterien. An Tatorten werden Spuren entdeckt, die für Lacassagne und seine Kollegen unsichtbar waren, selbst wenn sie ihre besten Messinstrumente und stärksten Mikroskope benutzt hätten. Ermittler verwenden UV-Licht, um Blut und Spermaflecken erkennbar zu machen, auch wenn diese vorher mit Bleichmitteln behandelt wurden, und sie spüren mit Bändern und Gelen unsichtbare Fingerdrücke auf. Berge von Informationen werden ausgetauscht, weil die Behörden vieler Länder umfangreiche Datenbanken angelegt haben. Während Beamte früher tagelang Fingerabdrücke vergleichen und dazu in Akten blättern mussten, erledigt ein Computer diese Aufgabe jetzt in Minuten. Seit Mitte der Achtzigerjahre sind auch DNS-Analysen möglich, die einen Verdächtigen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als einer Milliarde zu eins dem Opfer oder dem Tatort zuordnen können.
Diese Technik und diese Effizienz haben dazu geführt, dass forensische Labors heutzutage als nahezu perfekte
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