Der Wandermoerder
Schlussfolgerungen, wie in der Geschichte von den Blinden, die einen Elefanten abtasten.
In den 1980er- und 1990er-Jahren ermöglichten es die PET (Positronenemissionstomografie) und die MRT (Magnetresonanztomografie), die Arbeit des lebenden Gehirns direkt zu beobachten. Was folgte, war eine Renaissance der neurologischen Forschung, die neuerdings auch die Gehirne von Häftlingen mit den Gehirnen »normaler« Menschen vergleicht. Viele Gefangene weisen bestimmte Charakterzüge häufiger auf als andere Menschen: Mangel an Einfühlungsvermögen, Spaß an Nervenkitzel, schlechte Triebkontrolle und eine Unfähigkeit, die Regeln der Gesellschaft zu befolgen. Zusammengefasst spricht man dabei von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (APS). Die Symptome sind so tief verwurzelt, dass die meisten Psychologen APS nicht für eine Krankheit, sondern für einen unveränderlichen Bestandteil der Persönlichkeit halten. 24
Wissenschaftler, die das Gehirn von Häftlingen mit APS gescannt haben, entdeckten Anomalien in der Gehirnregion, die für höhere Denkprozesse und Selbstbeherrschung zuständig ist. Der präfrontale Kortex (PFK), der sich knapp oberhalb der Augen hinter der Stirn befindet, steuert offenbar unsere niedrigen Instinkte, zum Beispiel Furcht, Egoismus und Neigung zu Gewalt (man denke an den Persönlichkeitswandel von höflich zu unfreundlich bei Phineas Gage, als sein PFK beschädigt wurde). Diese Impulse entstehen tief im Gehirn, und zwar in der Amygdala, einem evolutionär primitiven Teil. Immer mehr Studien lassen darauf schließen, dass der PFK die wilden Triebe hemmt, die aus der Amygdala hervorgehen. Wenn der PFK verletzt oder verkümmert ist oder wenn die Verbindung zwischen den beiden Gehirnteilen unterbrochen wird, hat der Betroffene Probleme mit verzögerter Belohnung und Impulssteuerung. Solchen Menschen fehlen die Empfindungen, die anderen helfen, die Regeln der Gesellschaft einzuhalten: Scham, Einfühlungsvermögen oder Schuldgefühle. Andere Studien belegen, dass diese Menschen auf den Alltag und auf belastende Situationen ungewöhnlich schwach reagieren und daher nach Nervenkitzeln suchen, ohne Furcht zu empfinden. Wissenschaftler beobachten diese Reaktionen, indem sie den Hautwiderstand messen – eine faszinierende Parallele zu Lombrosos Experimenten mit Elektroschocks.
Im Gegensatz zu Lombroso glaubt heute niemand mehr, dass die Biologie das Schicksal bestimmt. Die Studien mit den Gehirnen von Verbrechern waren bisher nicht umfangreich und lang genug, um aus Hypothesen Fakten zu erstellen. Zudem müssen die Forscher das Problem mit dem Huhn und dem Ei lösen: Führt eine Gehirnstörung zu einem bestimmten Verhalten, oder bewirkt jahrelanges Fehlverhalten die Gehirnstörung? Unsere Erfahrungen verändern das Gehirn, und niemand leugnet den Einfluss der Erziehung. Wer missbraucht oder vernachlässigt wird oder in Armut aufwächst, wird eher kriminell werden als ein Mensch, dem es besser erging. Wie in Lacassagnes Zeit ist die moderne Wissenschaft auch heute mit den schwierigen Fragen um Schuldunfähigkeit und freien Willen beschäftigt. Als schuldfähig gilt derzeit, wer bei einer Straftat weiß, dass er Unrecht tut, und sich davon dennoch nicht abhalten lässt. Was aber wäre, wenn neue Erkenntnisse beweisen würden, dass bestimmte Menschen sich zwar eines gewalttätigen Impulses bewusst sind, ihm aber mangels einer bestimmten Nervenbahn nicht widerstehen können? Müssten wir dann die Schuldfähigkeit anders definieren? Diese Frage fasziniert die Neuroanatomen und beunruhigt jene Menschen, die über andere urteilen und richten müssen.
Wie würde der Fall Vacher angesichts der Fortschritte in der Forensik, in der Neurobiologie und in der Psychiatrie heutzutage ausgehen? Wahrscheinlich kaum anders als damals. Er entzog sich jahrelang einer Festnahme, aber das gelingt heutigen raffinierten Serienmördern auch. Dennis Rader, der »BTK«-Mörder, der in der Nähe von Wichita in Kansas lebte, ermordete innerhalb von 17 Jahren zehn Menschen, ehe er 2005 verhaftet wurde, nachdem er der Polizei ein anonymes Geständnis geschickt hatte. Ted Bundy tötete innerhalb von fünf Jahren mindestens 30 junge Frauen. Andrej Tschikatilo ermordete innerhalb von zwölf Jahren in der Sowjetunion 52 Menschen. Selbst wenn sie von Polizisten gestellt werden, gelingt es Serienmördern oft zu entkommen, wie Vacher und seine modernen Gegenstücke bewiesen haben. Im Jahr 1991 wurde die Polizei in Milwaukee von einem
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