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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jamil Ahmad
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Dorf – lenkten einige Schuljungen, die sich gerade damit amüsiert hatten, einen alten Verrückten, der kichernd in engen Kreisen herumtrippelte, mit Eierschalen und Schlamm zu bewerfen, ihre Aufmerksamkeit auf den Bären und dessen Besitzer. Shah Zarinas Mann nahm den ersten Angriff, bei dem ein paar Eierschalen und Handvoll Schlamm auf ihnen landeten, geduldig hin, doch dann wurden die Jungen bösartiger. Sie fingen an, mit Steinen zu werfen, und einer davon traf den Bären an der Schnauze, dass das Blut nur so spritzte. Der Bär schrie vor Schmerz auf, und da zückte ihr Mann seinen Stock und schlug damit nach den Jungen und schaffte es, sie auseinanderzutreiben.
    Sie gingen weiter. Ihr Mann kaufte von seinen Tageseinkünften etwas Mehl, und am Nachmittag machten sie Rast. Sie knüpfte ihre Bündel auf und bereitete das Abendessen für alle drei. In den Städten änderte sich ihre Lebensweise von Grund auf. Hier mietete der Mann immer ein Zimmer in der Peripherie, das nachts vom Bären und tagsüber, wenn der Ehemann mit ihm unterwegs war, von Shah Zarina bewohnt wurde.
    Jeden Morgen, sobald der Bär weg war, machte Shah Zarina das Zimmer sauber, trug ihre paar Habseligkeiten hinein und breitete sie aus. Nachmittags musste alles zusammengerafft und eingepackt werden, damit das Zimmer bereit wäre, wenn der Bär heimkam.
    Dann richtete sie das Essen und buk so viel Brot, dass es auch für die Morgenmahlzeit des Bären am nächsten Tag reichen würde. Stadt um Stadt lief das Leben nach demselben Muster ab. Es war ihr unbegreiflich, warum der Bär ein Zimmer haben musste und ihr Mann und sie keines hatten. Einmal fragte sie ihren Mann danach. Er sah sie kalt an und sagte: »Eine andere Frau finde ich jederzeit, einen anderen Bären nicht.« Sie war sprachlos.
    Im Laufe der Monate vertiefte sich Shah Zarinas Abneigung gegen den Bären zu einem finsteren, brütenden Hass. Sie verstand zwar, dass auch sie die Wichtigkeit des Bären anerkennen sollte, aber ein Teil von ihr wurde eifersüchtig bei dem Gedanken, dass sie nur an zweiter Stelle nach dem Tier kam. Anfangs äußerte sich ihre Rebellion in kleinen Gesten, von denen nur sie selbst wusste. An einem Tag goss sie etwa Wasser in die Ecke, wo der Bär angebunden wurde, und malte sich aus, dass er eine ungemütliche Nacht verbringen würde. An einem anderen Tag streute sie Dornen auf den Fußboden. Mit der Zeit verloren jedoch auch derlei gemeine Streiche ihren Reiz, und sie verlegte sich auf bösartigere Taktiken. Sie mischte rote Chilis in das Mehl, aus dem sie das Brot für den Bären buk. In der Nacht ging der Bär mit leerem Magen schlafen.
    Schließlich hämmerte sie dünne Nägel durch das Ende des Stocks, mit dem ihr Mann den Bären jeden Morgen zu prügeln pflegte, um zu gewährleisten, dass er sich den Tag über benahm. An dem Morgen bekam der Bär anstelle der gewohnten harmlosen Schläge ein paar scharfe Risswunden ab. Als der Bär vor Schmerz brüllte, machte sich ihr Mann Sorgen; und bei näherer Untersuchung des Stocks entdeckte er die dünnen Nägel. Er sah Zarina an, die sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Da ergriff ihr Mann den Stock und verabreichte seiner Frau genau dieselbe Anzahl von Schlägen, die er dem Bären gegeben hatte.
    Von da an nahm Shah Zarinas Leben eine weitere Wendung zum Schlechteren. Ihr Mann sorgte dafür, dass sie keine Gelegenheit mehr haben würde, dem Tier zu schaden. Dies erreichte er mit einer kalten Logik, indem er darauf bestand, dass sie kein angenehmeres Leben haben sollte als der Bär. Wenn der Bär sein Futter fraß, dann bekam auch Shah Zarina zu essen. Wenn er es stehenließ, musste auch sie hungern. Wenn der Bär nachts wach blieb, durfte Shah Zarina sich nicht zu ihrem Mann unter die einzige Steppdecke legen, die sie besaßen. Und wie der Bär bekam Shah Zarina jeden Morgen ihre Tracht Prügel für den Tag.
    Nach ein paar Monaten eines solchen Lebens hielt Shah Zarina es nicht mehr aus und lief ihrem Mann davon. Vier Tage später war sie wieder in ihrem Dorf, nachdem sie den größten Teil des Weges zu Fuß zurückgelegt hatte. Sie hatte ihre Hochzeitsgeschenke zurückgelassen, und ihre noch immer mit dem Flitter benähte Kleidung war schmutzig und verdreckt.
    Bei ihrer Rückkehr verheimlichte sie ihr Schicksal nicht, und die ganze Dorfgemeinschaft trauerte mit ihr. Die Frauen besuchten sie und weinten, während Shah Zarina schrie und sich die Haare raufte. Die Männer suchten Fateh Mohammad auf und

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