Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
immer aus Lebensmitteln, meist Mais, bestand. Für diese Entlohnung musste er sich mal einer Beschneidung annehmen, mal einer Hochzeit oder eines Begräbnisses; ab und an vielleicht auch einen Exorzismus durchführen. Von Zeit zu Zeit sah man ihn mit seinen Kindern auf der Dachterrasse sitzen. An diesen Tagen zeichnete er normalerweise ein kleines Spielbrett auf den Lehmboden und spielte mit den Kindern mit schwarzen und weißen Steinchen irgendwelche Spiele.
Da die Leute wussten, dass seine Familie an diesen Tagen nichts zu beißen haben würde, brachten sie ihnen zu essen, häufig altbackene ungesäuerte Brotfladen, die das Ehepaar und ihre heißhungrigen Kinder dann gierig verschlangen.
Fateh Mohammad hatte seine älteste Tochter, seine Erstgeborene, Shah Zarina genannt. Dieser Name setzte sich aus zwei Wörtern zusammen, die beide Anspruch auf königliche Verbindungen erhoben. Je ärmer in diesen Gebirgsgegenden eine Familie war, desto hochtrabendere Namen gab sie ihren Kindern.
Shah Zarina war ein hübsches kleines Mädchen gewesen. Als sie heranwuchs, hätte man sie als schön bezeichnen können. Man sah sie in der Regel mit der einen oder anderen ihrer Halbschwestern auf der Hüfte in dem Zimmer, das die Familie bewohnte, ein und aus gehen.
In dieser kleinen Gemeinde konnte man nur wenig geheim halten. Es gab keine Vorhänge, hinter denen man sich hätte verstecken können, noch sonst irgendwelche Abschirmungen. Alles, was ein Mensch tat, das Leben, das er führte, war für jedermann sichtbar.
Allmählich setzte nach dem gewohnt verzweifelten Elend des Winters das Frühlingstauwetter ein. Nachdem jede Familie lange zurückgezogen für sich gelebt hatte, kam langsam wieder Bewegung in die Gemeinde. Es war die allgemeine Hoffnung zu spüren, dass das Leben während der nächsten paar Monate einfacher sein würde. Es gäbe Arbeit, und die ständige Qual des Hungers ließe zumindest ein wenig nach.
Eines Nachts ging Fateh Mohammads Frau nach draußen, um sich zu waschen. Als sie wieder zurückkam, schüttelte sie ihren Mann unsanft wach. »Komm mit raus!«, sagte sie, zitternd vor Aufregung. »Der Frühling ist da!« Fateh Mohammad wickelte die dünne Steppdecke um sich und folgte seiner Frau aus dem Zimmer.
Der volle Mond hing halb verborgen hinter der nördlichen Felswand. Sein Licht war stark und blendete die Augen. Fateh Mohammads Frau zeigte wortlos auf das Gestirn. Auf dem fernen Berggrat konnte man vor der leuchtenden Scheibe winzige Silhouetten ausmachen. Sie zogen mit Lasten auf dem Rücken in einer langen Reihe langsam vorüber. Das waren die Eisschneider. Es waren die Bewohner des am höchsten gelegenen Dorfes, deren Hauptbroterwerb darin bestand, Eisblöcke aus Gletschern zu schneiden und sie auf dem Rücken ins Tal zu tragen, wo wartende Lastwagen sie aufluden und schnell in die Städte beförderten, zu Menschen, die in den wärmeren Regionen lebten.
Die Kinder, die, während die Eltern sich liebten, so getan hatten, als würden sie schlafen, waren ebenfalls herausgekommen und lachten und klatschten in die Hände beim Gedanken daran, dass der Frühling bald einkehren würde. Sie wussten, dass mit den Eisschneidern auch die provisorischen Siedlungen der Pilzsammler auftauchen würden – Männer, die ein paar Wochen lang der Schneegrenze folgten und die Pilze pflückten, die dort in Hülle und Fülle wuchsen, um sie zu trocknen und für den Export in fremde Länder zu verkaufen.
Hinter all dieser angespannten Aufregung lag die Tatsache, dass Fateh Mohammad jedes Jahr um diese Zeit den relativ wohlhabenden Gruppen, die ihren Tribut in Bargeld und abgelegten Kleidern leisteten, einen Besuch abstattete.
In dieser Nacht schlief die Familie nicht. Die nächsten paar Stunden sprachen alle über Fateh Mohammads Reise und trafen Vorbereitungen dafür. Sie lachten, als sie seine Reiseschuhe hervorholten und flickten, scherzten untereinander, während sie seine Reisetasche mit ein paar Kleidungsstücken und Büchern füllten und dann noch die Talismane und Amulette dazulegten, die von den rauen bärtigen Eisschneidern bevorzugt wurden. Den Stab in der Hand, brach Fateh Mohammad in aller Frühe auf, und als er sich im Morgengrauen umwandte, um sein Gebet zu sprechen, stellte er fest, dass sein Haus nicht mehr zu sehen war. Das betrübte ihn, denn er war sicher, dass seine Familie darauf gewartet hatte, einen letzten Blick von ihm zu erhaschen, bevor er die nächste Etappe seines Aufstiegs in Angriff
Weitere Kostenlose Bücher