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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Der Berg schweigt
     
    Die Sonne stand hoch am Himmel. In der Mittagswärme flimmerte die Luft, als ob sie die Strahlen zu einem goldenen Schleier webte. Über dem Windbruch, der zu Beginn des Frühlings am Hang der Black Hills entstanden war, lag jetzt Ruhe. Aus den Wunden der gestürzten Stämme duftete es nach Harz. Wurzelwerk stand in der Luft; getrocknete Erde und vertrocknetes Moos hingen noch daran. Während die entwurzelten Bäume starben, reckten sich Gräser und Beerenstauden im neu gewonnenen Licht. Käfer krabbelten eifrig ihren mühsamen Weg, und es Summte und surrte von Bienen.
    Am Rande der Bruchstelle, zwischen schattengebenden Bäumen, stand ein Bär. Nur ein paar Sonnenflecken tanzten durch Laub und Nadeln bis auf seinen braunen Pelz und in seine kleinen Augen. Er blinzelte, setzte sich hin, hob die Vordertatzen und schleckte eine nach der anderen sorgfältig ab. Dann sog er die Luft tief ein, überlegte und schnüffelte wieder.
    Schließlich erhob er sich und begann in das Gewirr der gestürzten Stämme einzudringen. Auf seine gewohnte Art benutzte er die langen Krallen zum Klettern und balancierte geschickt von einem Stamm zum ändern, während ihm die Sonne jetzt prall auf das Fell schien. Immer entschiedener strebte er einem riesigen alten Baume zu, der sich inmitten der allgemeinen Zerstörung aufrechterhalten hatte. Der Stamm war dick, die Krone zerzaust, die Rinde rissig. Die Blätter spielten leise mit Wind, Sonne und Schatten, und ringsumher schwärmten Bienen. Der Bär näherte sich dem Baum und wurde allmählich vorsichtig. Er war nicht mehr jung. Von Erfahrungen gewitzigt, umkreiste er sein Ziel, stieg von einem querliegenden Stamm herab und verkroch sich im Gesträuch und zwischen Zweigen. Langsam, im Zickzack, als ob er nicht mehr genau wisse, wohin er wolle, kam er dem Baume näher und näher, und verführerisch duftete ihm Honig entgegen.
    In einem tiefen Astloch des Baumes hatte sich ein Bienenvolk angesiedelt. Der Bär wollte den Wintervorrat an Honig rauben, den es sich gesammelt hatte. Als der Braunpelz sich bis zum Stamme angeschlichen hatte, ohne daß die Bienen mißtrauisch geworden waren, reckte er sich schnell in die Höhe. Auf den Hintertatzen stehend, griff er mit einer Vordertatze in das Astloch; honigtriefend zog er sie zurück und leckte verzückt daran. Jetzt wurden die Bienen aufmerksam. Zuerst flogen diejenigen aufgeregt hervor, die der Räuber mit der Tatze im Stock aufgestört hatte. Fast zur selben Zeit schwirrten andere herbei, die honigbeladen zu dem Astloch unterwegs gewesen waren, und im Nu mußte ein dem Bären unbekanntes Nachrichtenwesen funktioniert haben, denn wie eine Wolke kam das Bienenvolk schon von allen Seiten. Den Tod nicht kennend und daher nicht achtend, drangen die Insekten auf ihren Feind ein und stachen ihn überall, wo sie an seinen Körper gelangen konnten. Wütend schlug der Bär mit den Vordertatzen um sich und suchte vor allem seine Augen zu schützen. Aber die surrenden kleinen Angreifer waren schnell und geschickt und vergällten dem dicken Braunen die Freude an seinem Raube gänzlich. Er holte sich zwar noch ein zweites und letztes Mal eine Tatze Honig und schleckte schnell, ohne rechten Genuß, unaufhörlich umschwirrt und gestochen. Aber dann zog er sich eilends zurück. Er turnte über die Stämme, sprang trotz seines Gewichts fast so gewandt wie eine Eichkatze davon und gelangte endlich wieder in Wald und Schatten. Die wütenden Bienen verfolgten ihn noch immer. Er lief weiter und brach durch das Gebüsch, daß es krachte. Aber nach hundert Metern blieb er plötzlich stehen, als ob er versteinert worden sei. Während er einen Teil der Bienen noch hinter sich hatte, war vor ihm der ihm verhaßteste aller Feinde aufgetaucht: ein Mensch. Der Mensch lachte dröhnend. Der Bär glaubte, daß sein Feind brülle, und antwortete mit einem bösen Fauchen, um dem anderen Angst zu machen. Aber das dem Bären widerwärtige Geschöpf lachte weiter. Die Bienen nahmen unterdessen ihren Vorteil wahr und stachen den Braunfelligen von hinten an empfindlichen Stellen. Das wurde dem Bären, der sich in dieser stillen Mittagsstunde auf Genuß und nicht auf Gefahr eingestellt hatte, zuviel. Er brach zur Seite aus und rannte in voller Flucht waldabwärts. Die beharrlichsten der Bienen verfolgten ihn noch eine Strecke weit. Dann kehrte das Insektenvolk triumphierend zu seinem Stock zurück. Die Toten wurden nicht gezählt.
    Der Mensch hatte dem

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