Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
I
Als Daniel das Krankenhauszimmer betritt, fällt sein Blick zuerst auf den Bildschirm, den flimmernden Zeichentrickfilm, eigentlich hat der Vater nie Vormittagsfernsehen geschaut, und dann auf den Bettnachbarn, einen Mann, Mitte vierzig, blond, eine türkische Tageszeitung aufgeschlagen neben sich auf dem Bett, der still, zufrieden lächelt.
Weil er es hinter sich hat.
Hinter sich und überlebt.
Die Hand des Mannes, des Blonden, des Lesers der Hürriyet , gleitet am Saum des Pyjamas hinunter, an der Naht auf dem Brustbein entlang, mit den Fingerkuppen über den schwarzen, unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf. Es heißt, nach Herz- und Lungenoperationen würden die Rippen mit Metallklammern verhakt. Damit das Innerste nicht herausfallen, nicht aus dem Brustkorb stürzen kann.
Das Innerste.
Was ist das? Wo fängt eine Persönlichkeit an, ab welcher Stelle ist sie nicht mehr austauschbar, nicht mehr zu ersetzen?
Unter den Rippen schlägt das Herz.
Der Mann mit der frischen Naht, dem fahlen Gesicht, dem unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf, steht langsam auf, schreitet, das Gestell mit der Infusionsflasche hinter sich herziehend, durch den Raum, nickt Daniel noch einmal zu und verschwindet dann auf den Gang. Triumphierend, er hat es geschafft. Der Vater würde sagen: Man's death's end.
Ein Bypass, erklärt der Vater mit einem demonstrativen Grinsen, sein dritter. Der Mann mit der fahlen Haut, der blonde Türke, ein Türke, der deutscher aussieht als die meisten Deutschen, aber was heißt das schon?, merkt der Vater mit dünner Stimme an, sei als Notfall eingeliefert und sofort operiert worden, vor gar nicht langer Zeit, vor vier oder fünf Tagen, weil er seine Medikamente abgesetzt habe, eigenmächtig, was für ein Leichtsinn. Die Medikamente, fragt Daniel, blickt irritiert auf den Fernseher, Tom und Jerry, hört: Marcumar, als müsse man wissen, was das ist, und dann, als nachgeschobene Erklärung: Blutverdünner, muss man sein Leben lang nehmen.
Marcumar: Was weiß man als 25-Jähriger von lebenslänglich verschriebenen Medikamenten?
Wetten, dass der rauchen gegangen ist, sagt der Vater. Der weiß, was er will, auch wenn es für ihn das Falsche ist.
Und dann versucht der Vater zu klingen, wie er früher klang: No risk, no fun.
Früher. Als Daniel in den Schulferien noch zum Vater nach Berlin fuhr: ein bemaltes Treppenhaus, der strenge Geruch von Hundepisse, die Aufhebung aller Regeln. Während sich die Klassenkameraden mit den Eltern, der Reihenhausbilderbuchfamilie, in Spanien in der Sonne aalten. Nach der Rückkehr erzählten sie stolz vom Süden, einem Strandurlaub, den alle machten, alle außer Daniel.
Er blickt am Krankenbett vorbei in den Park, wo sich Pappeln im Wind biegen, ihre Laubköpfe hin- und herwerfen. Ein herbstlicher Tag – dabei ist Juni.
Und?
Eigentlich keine Frage. Keine, auf die man eine Antwort erwartet. Der Vater atmet flach und zu schnell.
Was haben die Ärzte gesagt?
Daniel ahnt, was der Vater gleich antworten wird. Dass in Krankenhäusern nicht mehr viel geredet wird, seit die Norm-Visite auf 150 Sekunden beschränkt worden ist, die Sparpolitik in Kürze zur Einstellung jedes direkten Kontaktes zwischen Arzt und Patienten führen wird, die Finanzkrise noch dafür sorgen wird, dass zur Rettung des Kapitals Kranke zum kollektiven Exitus bewegt werden.
Was der Vater sagen würde , wenn er nicht so kurzatmig wäre.
Auf dem Rolltisch neben dem Krankenbett liegt ein Buch: Der Eindringling. Jean-Luc Nancy, ein philosophischer Verlag. Auf der Rückseite ist etwas von Fremdheit zu lesen, von Krankheit, einem transplantierten Organ.
Und Daniel denkt, dass auch das zu erwarten war: dass der Vater bei einer Krankheit genau so ein Buch lesen würde.
Immerhin liest er. Als Daniel acht oder neun war, schien es für den Vater nur risk and fun zu geben: Lebe wild und gefährlich.
Daniel blickt hinaus in den Park und hört das Rascheln der Pappeln durchs geschlossene Fenster. Ein Geräusch, das im Kopf entsteht. Das vom Bild sich biegender Pappeln ausgelöst und wie ein Tonband im Gehirn abgespielt wird. Denn tatsächlich ist es totenstill im Raum.
Toten still.
Auch wenn der Vater in Daniels Leben keine große Rolle gespielt hat, sein Verschwinden gar nicht weiter auffallen dürfte, ist es doch nicht so, als ließe Daniel das unberührt.
Sie gehen gelb gestrichene Krankenhausgänge hinunter, Betten werden vorbeigeschoben. Leere, frisch bezogene
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