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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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wie Kalk. »Und die Nummer?«
    »Die spielst du mit drei Kindern weiter.«
    »Du bist verrückt, Harry, sage ich dir. Was du hier geschwatzt hast, erfährt sofort Frank Ellis.« Frank Ellis war der Inspizient. »Eine solche Nummer kaputtmachen, die eben erst steht, den Zirkus schädigen, mich ruinieren ­ das kann auch nur ein ganz ungebildeter, ungewaschener Indsman! So ein richtiges unzuverlässiges Zigeunerblut! Wozu habe ich dir Schreiben und Lesen beigebracht!« Bob war rot angelaufen. Er war jähzornig, und im Jähzorn sagte er oft etwas, was seinem guten Herzen nicht anstand.
    »Soll ich dir die Stunden bezahlen?« fragte Harka, tief verletzt.
    »Blödsinn. Jedenfalls bleibst du! Dafür sorge ich schon! Dein Vater wird hoffentlich etwas vernünftiger sein als du!«
    Harka hatte dem vierten Esel das Heu hingeschüttet und ging. Als Old Bob sich am nächsten Morgen mit ihm versöhnen wollte, blieb der Junge stumm und ernst.
    Der Inspizient erfuhr jedoch vorläufig nichts von dem Zwist. Die Zirkusleitung hatte alle Hände voll zu tun und viel schwerere Sorgen als Bob um seinen kleinen Lord. Der Winter hatte viele Mittel verschlungen, da immer wieder feste Unterkünfte hatten bezogen werden müssen, die hohe Mieten kosteten. Die Kredite, die im Herbst aufgenommen worden waren, liefen im Frühjahr ab. Der Zirkus mußte sich noch sehr hohe Tageseinnahmen verschaffen, wenn er seine Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen erfüllen wollte. Die Nervosität, die den Direktor ergriff, teilte sich dem Inspizienten und über diesen dem gesamten Personal mit. Die. Löhne wurden nicht regelmäßig bezahlt, die Gagen gekürzt. Die erstklassige Trapeztruppe hatte sich schon ein anderes Engagement verschafft, obgleich dies sehr schwer war. Buffalo Bill war der zweite, der ging. Er hatte sich nur den Winter über angenehm und einträglich beschäftigen wollen. Jetzt nahm er wieder Dienst als Kundschafter und Jäger für die Eisenbahnbaugesellschaften an. Der Bürgerkrieg ging dem Ende zu, und die Arbeiten sollten verstärkt fortgesetzt werden. Für die Arbeiter in der Prärie brauchte man Nahrung, die Konserven allein genügten nicht. Es waren gute Zeiten für eine rücksichtslose Jagd. Bill verließ daher den Zirkus. Er wurde nicht ersetzt. Die Gage wurde eingespart. Die Verantwortung für die Indianertruppe übernahm der kreischende Manager allein. Er verstand mit Indianern nicht umzugehen, und es gab täglich Reibereien. Harka verkehrte aber jetzt viel ungestörter mit seinen Stammesgenossen. Der Manager Lewis hatte nicht Bills Kundschafteraugen!
    Obgleich die Direktion versuchte, ihre Schwierigkeiten zu verheimlichen, um die Gläubiger nicht zu beunruhigen, sickerten die Nachrichten bis zum letzten Stallburschen durch, schon allein darum, weil die Löhne nur schleppend ausbezahlt wurden. Harka erfuhr durch den Dompteur, was im Gange war. Er gab die Nachricht an Singenden Pfeil weiter, damit die Dakotatruppe wahrheitsgemäß unterrichtet wurde.
    Es war in der Nacht nach einer Vorstellung. Die Zelte waren schon abgebrochen und verladen, die Wagen fahrfertig. Mattotaupa und Harka lagen in ihren Hängematten.
    »Wir fahren nach Minneapolis«, sagte Mattotaupa zu seinem Sohn. »Ich habe mir das auf der Karte angesehen. Diese Stadt liegt am oberen Mississippi, in Minnesota. Von dort reiten wir in die Prärie und in die Wälder.«
    Über Harka kam eine solche befreiende Freude, daß er kaum ein Wort hervorbringen konnte. Endlich, als der Wagen schon fuhr und die Hängematten leicht schaukelten, sagte er: »Ja, Vater!«
     
     

 
Ein letzter Schuß
     
    Die Stadt am oberen Mississippi wurde durch den Handel mit Weizen und ihre Mühlen schnell reich. Sie wuchs in dem gleichen Tempo wie viele Städte nach dem Bürgerkriege, und es befand sich dort schon eine nicht geringe Zahl von Häusern und Villen wohlhabender Bürger.
    In einer der Villen, die einer alten Dame gehörte und von einem zierlich bepflanzten Garten umgeben war, stand ein Fenster offen, so daß die Frühlingsluft in das Zimmer eindringen konnte. Am Tisch saß ein kleines Mädchen, ganz allein, und schrieb mit hochrotem Kopf eine Schönschriftaufgabe in ihr Schreibheft, tadellos auf die Linie, alle Buchstaben gleichmäßig hoch, den Druck gut verteilend. Am offenen Fenster standen Blumen; eine Biene summte, von dem süßen Duft angezogen, aber das kleine Mädchen sah und hörte nichts. Sie schrieb. Sie hörte nicht einmal den dunklen langsamen Schlag der Uhr. Auch auf

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