Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
Vom Netzwerk:
liefen die Tränen über die Wangen. Am liebsten hätte sie die Schönschrift zerrissen. Aber das wagte sie auch nicht, denn dann erzählte Tante Betty dem Vater jeden Tag, wie schlecht seine Tochter erzogen sei, und verdarb ihm den ganzen Urlaub. So klein Cate noch war, es blieb ihr nichts anderes übrig, als schon sehr verschiedene Seiten der menschlichen Verhaltensweisen kennenzulernen und sich danach zu richten.
    Sie beobachtete durch das Fenster, daß der Vater nach Hause kam. Er war mittelgroß und schlank. Sein Anzug saß tadellos, wenn er auch nicht mehr neu war; aber er hatte ihn sehr geschont. Seine hellblauen Augen hatten Cate durch das Fenster schon entdeckt, und er lächelte jetzt flüchtig. Das Kind strahlte auf und versuchte rasch, alle Tränenspuren zu beseitigen.
    Als Cate in das Nebenzimmer gerufen wurde, hatte der Vater Tante Betty schon einige Blumen überreicht, und sie bedankte sich wirklich erfreut, aber so gespreizt, daß Cate sich darüber ärgerte. Die Freundin, Frau Ann Finley, zupfte an Cates Kleidchen, während Tante Betty die Blumen in eine Vase stellte. Die Gegenwart und die gemessene Liebenswürdigkeit von Samuel Smith verbesserten die Laune der beiden angejahrten Damen sichtlich. Smith hatte schlohweißes Haar seit jener Schreckensnacht, nach der er seine Mutter auf der brennenden Farm nicht mehr wiedergefunden hatte, das Kind aber erst nach langem Suchen. Das weiße Haar stand im Kontrast zu dem noch jugendlichen Gesicht. Menschen, die noch nie eine Schreckensnacht durchgemacht hatten, fanden die Erscheinung von Samuel Smith interessant.
    »Ich habe Karten, allerdings für die Abendvorstellung, aber diese bietet euch bedeutend mehr«, sagte er eben. »Es ist mir sogar gelungen, Tante Betty, für uns die Nachbarloge neben Familie Finley zu sichern, ich habe Mister Finley unterwegs getroffen. Die Kinder können also nebeneinander sitzen.«
    »Aber Samuel! Verstehe ich dich recht? Du willst doch nicht etwa Cate mit in die Abendvorstellung nehmen?!«
    Frau Finley mischte sich ein. »Aber was für ein reizender Gedanke mit den Nachbarlogen!«
    »Gewiß, gewiß, Ann. Reizend. Ich meine nur ­ Cate … und … und diese Aufregung am Abend! Das Kind schläft mir die ganze Nacht nicht.« »Wir haben den heiligen Sonntag kurz vor uns, die Kirche beginnt erst um zehn Uhr«, beschwichtigte Smith. »Ich habe mich überzeugt, daß eine sehr hübsche Kindernummer gebracht wird, im Garten des Lords, das ist etwas für Cate. Im übrigen wird sie Pferde sehen; sie kann selbst schon reiten.«
    »Leider, leider! Aber wie du willst, Samuel, du bist der Vater! Die Nachbarlogen für uns und Familie Finley sind natürlich ein vortrefflicher Gedanke!«
    Smith ließ die Damen mit einigen höflichen Worten wieder unter sich und ging mit Cate in das Nebenzimmer, um sich ihre Arbeit anzusehen.
    »Aber das hast du wirklich gut gemacht!«
    Cate wurde rot. »Du bist wenigstens immer gerecht«, sagte sie. »Ich habe mir große Mühe gegeben.«
    »Wirst du nicht erschrecken, Kind, wenn Indianer auftreten? Dann gehe ich vor der letzten Nummer mit dir nach Hause. Diese letzte Nummer können wir uns ruhig schenken.«
    »Ich habe keine Angst, Vater, wenn du bei mir bist. Überhaupt nicht. Nur allein habe ich Angst. Im Zirkus sind auch gewiß nicht diese schlimmen Indianer, die unsere Weizenfelder in Brand gesteckt haben. Diese dürften doch nicht hier in unsere Stadt kommen! Es gibt auch Indianer, die Christen und gute Menschen sind.«
    »Meinst du!« Im Gesicht von Samuel Smith zuckte es, und einen Moment nahmen seine Züge einen so harten Ausdruck an, wie Cate ihn nur selten am Vater sah.
    An dem Morgen, an dem im Hause der vermögenden Witwe die Auseinandersetzung um das Mädchen Cate und den Zirkusbesuch stattfand, hatten Leben und Aufregung im Zirkus schon viel früher begonnen. Mattotaupa und Harka waren eben gewaschen und angekleidet, als ein zwar erwarteter, gerade an diesem Tage aber doch überraschender Besuch bei ihrem Wagen auftauchte. Red Jim streckte den Kopf durch die Tür.
    »Eh, wahrhaftig, da sind die beiden! Top und Harry! Bedeutende Artisten, Zierde jeder Erfolgsnummer! Guten Morgen!« Er zog die Tür zu und versuchte, seinen großen Körper in dem kleinen Raum noch neben den beiden Indianern zu verstauen.
    »Will euch nur schnell unterrichten: Die Bude hier wird wohl letzten Endes doch noch pleite gehen. Macht euch für den Ritt in den wilden Westen bereit. Am besten gehen wir drei zusammen. Wir

Weitere Kostenlose Bücher