Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
Blick auf die Wolldecke, in die Ferdinand eingewickelt war.
    Unscheinbar sei das Kind – aber zu groß, als dass man es einfach übersehen könne.
    Die eine der Mägde streckte ihre Hand aus, strich dem Jungen zärtlich über die Wange.
    Hobrecht seufzte.
    Keines der zahllosen Waisenhäuser, die auf seinem Heimweg gelegen hätten, habe das Kind annehmen wollen.
    Dieses niedliche Wesen ins Waisenhaus zu geben, so was! Sie habe gehört, für die Kinder seien solche Orte die reinste Hölle!
    Erstaunt hob Hobrecht seinen Blick, sah, dass eine Magd das Kind auf den Schoß genommen hatte und behutsam streichelte, während die andere ihm einen Becher mit Milch an die Lippen setzte.
    Dieser goldige Junge – so ein feines Lächeln – ein wahrer Segen.
    Beide schauten den Pfarrer bittend an.
    * * *
    Von da an bekam Hobrecht über Ferdinand einiges zu hören – Ereignisse, die dem Pfarrer oftmals nicht sehr behagten. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren wurde er allerdings täglich weiter in weltliche Aufgaben und angetragene Schwierigkeiten verwickelt und konnte sich kaum die Hälfte all der Vorfälle merken, die Ferdinand betrafen. Aber schon die wenigen Gerüchte, die er über dessen offensichtliche Torheiten erzählt bekam, ließen ihm die Haare zu Berge stehen – vor allem, wenn er sich dazu die letzten Worte von Ferdinands Onkel ins Gedächtnis rief.
    Da half es auch nichts, dass die Mägde den Jungen in ihre Obhut genommen hatten oder dass Ferdinands Onkel ihm erstaunlich viel Geld gegeben hatte, um das Heranwachsen des Jungen zu sichern.
    Hobrecht spürte ein leises Unwohlsein in sich anwachsen.
    Es gab jedoch eine Eigenschaft an Ferdinand, für die Hobrecht all diese unschönen Angelegenheiten gern in Kauf nahm, ja, sich insgeheim freute, den Jungen bald täglich sehen zu können, wenn dieser dann endlich zu ihm in die Schule gehen würde.
    Dieser Junge, Ferdinand Meerten, war tatsächlich ein Künstler, genau wie es der Onkel verkündet hatte.
    Kaum dass er einen verrußten Stock in die Hand bekommen konnte, malte und zeichnete er auf Tücher und Stoffe, sogar an Hauswände oder in den Sand des Flussufers. Wo immer er ging und stand, erschuf er so exakte Abbilder von Mensch, Tier und Natur, dass die Mägde ihm von ihrem eigenen geringen Lohn Papier und Kohle besorgten, um seine Werke haltbarer zu machen. Bald wollte jeder, der von dieser wunderbaren Fähigkeit wusste, ein Bild von ihm haben.
    Auf dieses einmalige Talent war Hobrecht aus.
    In seiner Jugend hatte der Pfarrer aus einer Laune heraus ein Marienbild begonnen, welches bisher Fragment geblieben war, dessen Vollendung Hobrecht aber nach wie vor erhoffte.
    * * *
    Neue Schüler empfing Hobrecht stets Anfang Mai. Der Größe nach wurden die Kinder vor ihm aufgereiht und hatten dem Pfarrer ihren Namen, ihr Alter und den beruflichen Werdegang der Eltern zu nennen. Kaum allerdings, dass die Schüler ihre Antworten herunterleierten, spielten sich in Hobrechts Kopf umfangreiche Szenen ab: Die bloße Erwähnung von bestimmten Namen führte dem Pfarrer all die Sorgen dieser armen Geschöpfe bildlich vor Augen. Die Gesichter der Kinder, ihre wenigen Worte und die damit verbundenen Probleme der Eltern bildeten in Hobrechts Kopf endlose ineinander verschlungene Gedankenketten, vermengten sich zu einem heillosen Wirrwarr und ließen den Pfarrer völlig aus den Augen verlieren, wo er sich gerade wirklich befand.
    Erst als Hobrecht vor Ferdinand trat, blieb er einen Moment lang stehen, erwachte aus seinen Gedanken und lachte überrascht auf. Ferdinand erinnerte ihn an keine tragischen Geschichten, verband sich mit keinen traurigen Gesichtern oder sonstigen leidvollen Ereignissen. Trotzdem löste der Anblick dieses Jungen in Hobrecht eine Erinnerung aus. Nichts, was ihm jemand erzählt oder gezeigt hätte – es war etwas anderes. Hobrecht stand lange vor Ferdinand, dann begriff er auf einmal, was es war: Ferdinand erinnerte ihn an sich selbst.
    Durch das nebensächliche Betrachten dieses unscheinbaren Kindes erkannte Hobrecht, dass er eine eigene Geschichte, eigene Gedanken besaß – und damit natürlich auch ganz eigene Sorgen. Nicht viele – aber erst jetzt fiel Hobrecht auf, dass er selbst keineswegs sorgenfrei war: Da war die juckende Narbe an seinem Knöchel, die er manchmal unbewusst aufkratzte; sein enges, feuchtes Bett, in dem sich unsichtbare Wanzen und Krabbeltierchen eingenistet hatten; und zuletzt war da das unvollendete Bild, das er fast schon

Weitere Kostenlose Bücher