Der Widerschein
wieder vergessen hatte. Je länger Hobrecht da stand und nachdachte, desto mehr Unannehmlichkeiten fielen ihm ein, die ganz allein ihn selbst betrafen.
Im Vergleich zu der ihm von anderen angetragenen Masse an Beschwerlichkeiten waren es nur wenige bedeutsame Umstände; genug jedoch, um den Pfarrer urplötzlich zu verwirren und zuletzt zu einem erneuten Lachen zu verleiten.
Angefüllt mit den verdrängten Erinnerungen wandte Hobrecht sich abrupt dem Pult zu, hielt sich daran fest. Dann ergriff er hastig seinen Zeigestock und wies die Schüler an, sich der Reihe nach auf die freien Plätze zu setzen. Nach einem gemeinsamen Gebet begann Hobrecht den Unterricht.
* * *
Wenige Wochen später versammelte sich Hobrechts Gesinde vor seinem Arbeitszimmer.
Man habe etwas entdeckt, es gehe um den Jungen, Ferdinand.
Schon eine ganze Weile habe man vermutet, dass dieser Knabe etwas im Schilde führe. Anscheinend sei es ihm, Hobrecht, bisher noch nicht aufgefallen.
Ferdinand sei mehr als geschickt!
Man bat darum, in das Zimmer eintreten zu dürfen – und dort breitete man auf dem Tisch mehrere Dutzend Blätter und Zettel aus, der Herr Pfarrer möge in Ruhe alles betrachten. Währenddessen kommentierten die Mägde ihren spektakulären Fund.
Versteckt – unter seiner Matratze!
Eindeutig der Junge, kein anderer als dieser Bauernlümmel sei dazu imstande!
Zwar habe der Junge nur mit Kohle gezeichnet, aber dennoch – diese Bilder, unerreicht!
Hobrecht hielt ein Papier ins Licht und geriet über die künstlerische Hochwertigkeit des Bildes tatsächlich ins Schwärmen: eine schlafende Bäuerin auf einem Heuwagen! Neben ihr lag eine halb verdeckte Heugabel, unter und hinter dem Wagen schimmerte ein zur Hälfte abgeerntetes Feld durch, auf dem schemenhaft Männer, Frauen und Kinder im hellen Sonnenlicht arbeiteten.
Das Besondere, begann der Pfarrer langsam zu sprechen, das Besondere des Bildes sei nicht das Dargestellte, diese einfachen Menschen und ihre einfache Arbeit. Ja, Hobrecht lächelte abschätzig, die Motivwahl sei geradezu naiv. Aber, er deutete auf das Papier, wenn er es genau betrachte, dann – lautlos zählte Hobrecht bis zehn – ja, all diese Figuren, diese Dinge und Momente, all dies sei mit gerade einmal zehn endlosen Linien gezeichnet worden.
Zehn einfache Linien!
Fasziniert legte Hobrecht das Werk beiseite, schon hielt er ehrfürchtig ein anderes empor: ein Bild, abgrundtief schwarz, vollständig aus Schatten zusammengesetzt – eine unendliche Menge aneinandergefügter Dunkelheiten!
Ein alter, hagerer Mann in einem abgewetzten Lehnstuhl, die Augen in weite Ferne gerichtet, die Mundwinkel erstarrt, ein einzelner Zahn blitzte zwischen den schmalen Lippen hindurch; im Vordergrund die Fußbank, darauf die verschwitzten Füße des Alten mit löchrigen Socken, darunter zerschlissene Schuhe auf schweren Bodendielen; im Hintergrund ein Fenster, ein dünner Baum darin, ein zweiter als diffuser Schatten, zu weit weg, um ihn klar erkennen zu können.
Überall im Bild gab es trotz der Schwärze eine Vielzahl von Dingen zu entdecken: ein zerbeulter Eimer, unzählige angestaubte Flaschen, fasrige Körbe, ein hölzerner Schemel, zerronnene Kerzenstümpfe, fettige Wachstropfen, tote Fliegen auf der Fensterbank, bröslige Brotreste, schwingende Staubfäden, scharfkantige Sandkörner, einzelne Flecken auf dem engen Hemd des Alten, ein Knopf baumelte an einem letzten Fadenrest, krause Nasenhaare, hauchfeine Sprünge im Fensterglas, der gerissene Fingernagel am Ringfinger der linken Hand, aufgeschürfte Konturen der abgewandten Handinnenfläche, in der Dunkelheit erahnbare Tischbeine.
Hobrecht schlug auf den Tisch, die Mägde zuckten zusammen.
Eigentlich müsse er Ferdinand nun bestrafen – bei der Menge an Bildern scheine das ja schon Monate so zu gehen. Hobrecht sah streng in die Runde. So viele Blätter Papier! Die habe er sicher nicht alle geschenkt bekommen, das sei doch unbezahlbar! Und auch die Kohle habe er bestimmt nicht selbst erstanden. Also habe er mit großer Wahrscheinlichkeit gestohlen.
Vorwurfsvoll schüttelte er seinen Kopf.
Selbst die regelmäßigen Abreibungen mit der Rute hätten den Jungen offenbar nicht vernünftig gemacht! Was sollte man ihm denn noch alles durchgehen lassen? Ungehorsam und Verschwendung verdienten keine Anerkennung! Im Übrigen: Solche nützlichen Eigenschaften dürfe man nicht für sich behalten!
Schweigend sah der Pfarrer in die Runde, eine Magd räusperte sich.
Man
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