Der Widerschein
Hobrecht nun sorgenfrei und somit leer war.
Wo zuvor quälende Erinnerungen und leidvolle Ahnungen ihren angestammten Platz gehabt und den Pfarrer so zusammengehalten hatten, war nun nichts mehr. Auch keine persönlichen Erinnerungen, kein noch so unbedeutendes freudiges Ereignis, kein liebes Wort, schon gar keine aufmunternde Geste war im Gedächtnis des Pfarrers übrig geblieben. Im Laufe der Zeit hatte Hobrecht sorgsam jede Lebenslage mit einem unlösbaren Problem in Verbindung gebracht, so dass er nun – befreit von all diesen Phantomen und Dämonen – vollständig ausgehöhlt war. Selbst das bloße Luftholen war bei Hobrecht zu einem erbärmlichen Seufzen verkommen.
Ein letzter Schwall Atem rann nun aus den Lungen des Pfarrers – dann fiel er lautlos in sich zusammen.
* * *
Unglücklicherweise hatten die Mägde den Pfarrer mit Ferdinand nur weggehen gesehen, von seiner Rückkehr aber nichts mitbekommen. Aus diesem Grund fand man den Leichnam Hobrechts erst Tage später, als die Mägde aufgrund seiner langen Abwesenheit unruhig wurden. Sein plötzlicher Tod sorgte allerdings kaum für Aufsehen; die gesamte Situation deutete auf natürliches Herzversagen hin – tragisch, aber nur allzu verständlich.
In seinem Inneren, so hieß es, sei der Herr Pfarrer schon immer viel zu nachgiebig gewesen.
Zweites Kapitel
F ür die angehenden Künstler des achtzehnten Jahrhunderts waren die Niederlande eine einzige Katastrophe. Die vergangene große Epoche hatte das Land mit Bildern und Gemälden regelrecht überschwemmt, unzählige Menschen in Kunstschaffende verwandelt und den Preis für sämtliche Kunstwerke innerhalb weniger Jahre in eine bodenlose Tiefe getrieben. Das Resultat dieser Entwicklung war ernüchternd.
Auf dem Land oder den Dörfern konnte sich kaum ein Künstler von seiner Arbeit ernähren, geschweige denn in der Stadt. Selbst in den mittelgroßen Städten des Landes bekam man nahezu an jeder Straßenecke für ein paar Münzen perfekte Porträtzeichnungen angeboten, die innerhalb kürzester Zeit direkt vor Ort hergestellt wurden. Bezaubernde Stillleben und hochwertige Reproduktionen berühmter Werke wechselten für einen Spottpreis den Besitzer.
Die Kunst verkaufte sich unter Wert, damit die Künstler nicht nur von Lob und Luft leben mussten, sondern sich zumindest Brot, Wein und ein Dach über dem Kopf leisten konnten.
Reiche Auftraggeber kannten die meisten dieser armseligen Gestalten nur aus Geschichten und Gerüchten, die unter den Leidensgenossen fortwährend kursierten. Beinahe jeder wusste von jemandem, der es geschafft hatte: jemand, der die feinsten Farben verwenden konnte – unbezahlbares Lapislazuli-Blau, erstklassiges Karmesin-Rot, sogar fein geriebenes gelb-braunes Ocker! – ein Jemand, dessen Bilder in Kupfer gestochen und mit hochwertigen Kaltnadeln radiert wurden; ein Glückspilz, bei dem es gleich war, was oder wen er auf die Leinwand brachte. Der gönnerhafte Geldgeber im Hintergrund versorgte seinen Günstling mit Zeit, Geld und Ansehen, bescherte ihm ein sorgenfreies Leben, damit dieser sich allein auf das konzentrieren konnte, auf das es im Leben wirklich ankam: die Kunst.
Tatsächlich lebten aber selbst die angesehenen und erfolgreichen Künstler stets am Rand der Verzweiflung. Nur ein verschwindend geringer Teil dieser auserwählten Personen konnte es sich erlauben, mehr als eine unattraktive Auftragsarbeit abzulehnen. Auch in diesen Kreisen musste man um seinen mühsam errichteten Status schwer kämpfen.
* * *
Kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen den Horizont passierten, öffnete sich am Haus des Meisters die Eingangstür; Bros winkte Ferdinand herein und schloss die Tür hinter ihm.
Drinnen war es dämmerig, überall lag Staub, aber es roch angenehm nach dem öligen Geruch von Malfarben. Bros wies Ferdinand einen Verschlag zu, in dem er von nun an schlafen sollte und wo er seine wenigen Habseligkeiten ablegen durfte. Währenddessen band sich der Meister eine Malerschürze um, schnitt die Ecken seines Bartes rund, aß einen Apfel bis zum Stumpf auf und ließ den Rest unauffällig unter den Tisch fallen. Dann nahm er einen Schemel, setzte sich noch kauend vor Ferdinand und musterte ihn.
Im nächsten Moment war er aber wieder auf den Beinen und redete wild drauflos. Er müsse heute arbeiten; Ferdinand solle still sein und gut zusehen, was er, Bros, nun vollbringe. Durch diese simple Lektion hätten seine vorherigen Lehrlinge am meisten von ihm gelernt.
Tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher