Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
wurde; ein zartes Flimmern umspielte seine nun erstarrten Umrisse.
    Erst nach einem Moment bemerkte Hobrecht, dass sein Gesprächspartner ein unförmiges Bündel aus Lumpen und zerschlissenen Decken auf dem Arm hielt, in dem er unscharf das Gesicht eines etwa drei- oder vierjährigen Kindes erblickte, tief und fest schlafend.
    In wirren Worten und Sätzen erfuhr Hobrecht nun, dass es sich bei diesem Jungen um einen gewissen Ferdinand Meerten handelte, der mittlerweile leider beide Elternteile verloren hatte: den Vater durch Einrückbefehl, die Mutter starb, vermutlich an der Schwindsucht – der Mann selbst schien ein Onkel von jenem besagten Ferdinand zu sein.
    Der Pfarrer nickte, obwohl er vor Müdigkeit kaum noch zuhören konnte. Das Tageslicht war vollständig verschwunden, Hobrecht erkannte in der Dunkelheit nur noch die Umrisse des Mannes. Zum Glück war dem Pfarrer durch seine langjährige Erfahrung schnell klar, worauf dieses Gespräch hinauslief. Bereitwillig und geduldig hörte er zu, nickte aufmunternd in die Nacht hinein und wartete, bis dieser Mensch zum Ende seiner Rede kam: Er, ein einfacher Mann, in seinem Zustand, ohne Rückhalt einer guten Familie, er sei doch völlig unfähig, für das Heranwachsen des Kindes zu sorgen, solch ein liebes Geschöpf, ein guter Junge, ein vorbildliches Kind. Er hoffe da auf das Verständnis des Herrn Pfarrer – und natürlich dessen tatkräftige Unterstützung.
    Schnell traf man eine Vereinbarung, die Hobrecht bereits erwartet hatte. Ferdinand solle noch heute durch den Herrn Pfarrer zu einer anderen Familie gegeben werden, die gegen eine entsprechende Bezahlung die Aufzucht von Waisen anbot. Sobald das Kind groß genug sei, dürfe es zudem in die vom Pfarrer geleitete Dorfschule gehen.
    Hobrecht steckte das Geld des Onkels ein und nahm den schlafenden Jungen an sich.
    Ein Räuspern, das einem Bellen gleichkam, drang aus der Kehle des Onkels.
    Allerdings gebe es da noch eine Kleinigkeit, die erwähnt werden müsse.
    Hobrecht hielt das Bündel auf dem Arm, fragend sah er in die Richtung, aus der die Stimme des Onkels gekommen war.
    Dieses Kind, der Onkel flüsterte nun, es habe zu ihm gesprochen.
    Unerwartet trat der Onkel sehr nah an den Pfarrer heran, so dass Hobrecht zum ersten Mal das Gesicht seines Gegenübers erkennen konnte: starrende Augen, ein schiefer Mund ohne Zähne, die Wangen mit Falten wie Narben. Das Flüstern steigerte sich erneut zu einem Bellen.
    Gesprochen!
    Aber nicht wie sonst, nicht wie sonst!
    Sondern, sondern!
    In seinem Kopf!
    Und nun musste sich Hobrecht trotz quälender Müdigkeit und Dunkelheit die merkwürdige Geschichte des Onkels anhören, in der von Bildern, Visionen und anderen Hirngespinsten die Rede war; der Junge sei eine Art Künstler, äußerst geschickt – aber auch unheimlich. Und die Stimmen in seinem Kopf – der Onkel riss die Augen noch weiter auf, sein Gesicht kam bedrohlich nah an Hobrechts Nasenspitze heran, dann machte er einige ausladende Handbewegungen in der kalten Luft, tänzelte unruhig auf der Stelle herum – aber nun, plötzlich, da schwieg er auf einmal. Vorsorglich erteilte der Pfarrer dem Onkel einen zusätzlichen Segen, verabschiedete sich zügig und lief in die Nacht hinein.
    Im Weggehen betrachtete der Pfarrer das Bündel, schüttelte den Kopf. Das Kind sah nicht aus, als ob es mit ihm reden wollte, schon gar nicht in seinem Kopf.
    Es schlief unbekümmert weiter.
    Ferdinand Meerten schien in der Tat ein vorbildliches Kind zu sein.
    * * *
    Hobrecht grübelte.
    Es komme ihm mittlerweile so vor, als ob man seit einiger Zeit seine Hilfsbereitschaft viel zu selbstverständlich voraussetzen würde. Jene Menschen, diese bedauernswerten Geschöpfe, die ihm von Klagen, Problemen und tief sitzenden Leiden berichteten, für die weder Gott noch er als Mann der Kirche verantwortlich sei – hier gehe es um weltliche Dinge, die mit etwas gutem Willen jeder selbst lösen könne.
    Als ob es beispielsweise seine Aufgabe sei, Findelkinder wie diesen Ferdinand Meerten aus der Welt zu schaffen.
    Seine beiden Mägde, die neben ihm saßen, nickten verständnisvoll und sahen mit warmen Augen auf das schlafende Kind. Hobrecht blickte von seinem Teller auf, zeigte mit dem Löffel nach oben.
    Ein Zeichen des Himmels sei es, dass sich in allen bisherigen Fällen ein Waisenhaus gefunden habe, welches diese gottlosen Wesen aufnehmen konnte – nur eben dieses Mal leider nicht.
    Es raschelte, der Pfarrer warf einen nachdenklichen

Weitere Kostenlose Bücher