Der Widerstand: Demi-Monde: Welt außer Kontrolle 2 (German Edition)
zwei am Fuß verjüngten. Die Säule selbst ruhte auf einem sechseckigen Sockel, der, soweit de Nostredame durch den Schlamm, der ihn bedeckte, erkennen konnte, etwa vier Meter breit war. Zwei ineinander verschlungene Schlangen zogen sich über die ganze Länge jeder Seite. Auf perverse Art erinnerten sie ihn an den Hermesstab, das Symbol derjenigen, die im Bereich der Medizin arbeiteten, doch weiter hatten ihn seine Spekulationen nicht gebracht. Er konnte nur raten, welche Gottheit aus der Zeit vor der Gefangenschaft diese irgendwie beunruhigenden Schlangen darstellten.
Lilith? Das war ein interessanter Gedanke. Das nackte Geschöpf auf der letzten Seite der Säule konnte durchaus Lilith sein, doch warum würde das UrVolk seinem größten Feind ein Denkmal setzen? Das ergab keinen Sinn.
So faszinierend und unverständlich diese Zeichen auch waren, sie verblassten im Vergleich zu den übrigen Verzierungen, die in die Seiten der Säule geschnitzt, gestanzt, gegossen oder geätzt waren, weiß der Kuckuck, was. Während die Säule schon für sich ein beeindruckendes Kunstwerk war, machten diese Zeilen aus rätselhaften Runen sie möglicherweise, wahrscheinlich, nein, gewiss zum bemerkenswertesten archäologischen Fund aller Zeiten.
Bemerkenswert . Schon wieder dieses verfluchte Wort.
Trotz des Protests seiner alten Muskeln, seines tauben Hinterns und seiner ächzenden Gelenke, zwang sich de Nostredame aufzustehen, und ging auf die Säule zu. Er hob den Arm und strich mit den von Tabak verfärbten Fingern ehrfürchtig über die dicht gedrängten Zeilen mit den aufregenden und schleierhaften Schriftzeichen. Er hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, trotzdem berührte er sie in der aussichtslosen Hoffnung, dass er dadurch in der Lage wäre, ihr Geheimnis zu lüften.
Übersetzung durch Osmose vielleicht?
Das war das eigentliche Paradoxon der Säule. Sämtliche in die Säule gestanzten Zeichen waren in UrVölkisch A, der Sprache des UrVolks verfasst, der längst untergegangenen Vorfahren der Demi-Monde. In der Sprache, die er schon seit einer Ewigkeit zu entZiffern versuchte, bislang vergeblich.
Na ja, vielleicht war das übertrieben. Aus den Symbolen, die die Säule schmückten, konnte er ersehen, dass sie ein Edda-Gedicht an – hier musste er tief Luft holen – an Loki waren. Das Kreuzemblem auf der sechsten Seite der Säule über der nackten Lilith war das Zeichen Lokis. Er lächelte beschämt. Kein Wunder, dass man Loki als »Trickster« bezeichnete. Die ganze verdammte Säule war ein Witz. Loki hatte ihnen durch die Zeit hindurch eine Botschaft geschickt und sie doch so verfasst, dass keiner sie entziffern konnte.
Er spürte, dass jemand hinter ihm stand, und als er sich umdrehte, sah er seinen Freund und Kollegen aus der esoterischen Welt der VorWissenschaft, Nikolai Kondratjew, der an der Säule emporstarrte. Eine Sekunde lang musterte er Kondratjew. Der Mann wirkte ein bisschen kränklich, seine Wangen waren gerötet und sein ansonsten tadelloser Anzug leicht zerknittert.
»Guten Morgen, Nikolai, schön, dass du gekommen bist. Aber ehrlich gesagt siehst du aus, als wärst du ein bisschen von der Rolle.«
»Ich komme gerade von einer Audienz bei der Dogaressa.«
Das erklärte alles. Die Dogaressa war für ihre fortissimo Liebesakte bekannt. Kein Mann war vor ihr sicher.
»Du kommst gerade richtig, Nikolai. Wir wollen die Säule aus der Lagune bergen.« De Nostredame warf einen Blick auf den Ingenieur, der die Bergung durchführen sollte. »Sind wir so weit, CitiZen de Lesseps?«
»Jawohl, Professor.« De Lesseps deutete auf die dicken Stahlseile, die um die Säule gebunden waren. Sie führten durch massive Flaschenzüge und waren an eine dampfgetriebene Winde angeschlossen. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Docteur Kondratjew und Sie ein wenig zur Seite treten könnten, Professor. Nicht, dass Sie verletzt werden, wenn wir die Säule aus ihrer Verankerung lösen.«
De Nostredame und Kondratjew folgten seiner Bitte. Sobald de Lesseps sich davon überzeugt hatte, dass sich alle außerhalb der Gefahrenzone befanden, gab er dem Mann an der Winde ein Zeichen. Die Stahlseile strafften sich, die Dampfmaschine begann zu tuckern, doch die Lagune wollte ihre wertvolle Beute nicht preisgeben. Es dauerte zehn Minuten, bis sie die Säule endlich aus dem zähen Schlammboden der Lagune befreit hatten. Sobald dies geschehen war, gab de Lesseps einer Gruppe von Männern, die mit Schläuchen bewaffnet waren, ein Zeichen,
Weitere Kostenlose Bücher