Der Windsänger
unwillkürlich. Bowman und Kestrel sahen mit klopfendem Herzen zu.
Gleich, dachten sie sich zu.
»Wiss, wiss, wiss«, wiederholte der Prüfer.
»Gleich ist es so weit«, sagte Mrs. Hath.
Jetzt, Pinpin, jetzt, feuerten Bowman und Kestrel ihre kleine Schwester in Gedanken an. Tu‘s jetzt.
Mr. Hath schlug die Augen auf und bemerkte den Blick auf ihren Gesichtern. Auf einmal begriff er, was vor sich ging, stand auf und streckte die Arme aus. »Geben Sie sie mir…«
Zu spät.
Bravo, Pinpin!, jubelten Bo und Kess in der Stille ihrer Gedanken. Bravo, Pinpin, bravo!
Mit einem verträumten, zufriedenen Gesichtsausdruck leerte Pinpin ihre Blase in einem langen, gleichmäßigen Strahl auf die Arme des Prüfers. Dieser spürte, wie sich die sanfte Wärme ausbreitete, begriff aber zunächst nicht, was geschah. Als er die gebannten Gesichter Mrs. Haths und ihrer Kinder bemerkte, senkte er den Blick. Der Fleck breitete sich auf seinem scharlachroten Talar aus. In eisigem Schweigen reichte er Mr. Hath Pinpin, drehte sich um und schritt ernst den Gang zurück.
Mrs. Hath nahm Pinpin ihrem Mann ab und küsste sie ab. Geschüttelt von lautlosem Gelächter wälzten sich Bowman und Kestrel auf dem Boden. Hanno Hath beobachtete, wie der Prüfer Maslo Inch von dem Vorfall berichtete, und seufzte heimlich. Er wusste etwas, das seine Frau und die Kinder nicht wussten, nämlich dass sie heute Morgen eine gute Note gebraucht hätten. Da sie nun überhaupt keine Punkte erzielt hatten, würden sie sicher ihr Haus im Orangefarbenen Bezirk verlassen und in ein bescheideneres Quartier ziehen müssen. Zwei Zimmer wenn sie Glück hatten, wahrscheinlich aber eher nur eines. Küche und Bad würden sie sich mit anderen Familien auf einem Gemeinschaftsflur teilen müssen. Hanno Hath war kein eitler Mann. Es kümmerte ihn wenig, was andere von ihm dachten. Doch er liebte seine Familie von ganzem Herzen und der Gedanke, sie zu enttäuschen, schmerzte ihn tief.
Ira Hath hielt Pinpin ganz fest und wollte nicht an die Zukunft denken.
»Wiss, wiss, wiss«, murmelte Pinpin glücklich.
2 Kestrel findet einen ungeliebten Freund
In der Schule stellten Bowman und Kestrel fest, dass sie vergessen hatten ihre Hausaufgaben mitzunehmen.
»Vergessen?«, donnerte Dr. Batch. »Ihr habt sie vergessen?«
Die Zwillinge standen ganz vorn im langen Klassenzimmer und sahen ihren Lehrer an. Dr. Batch strich sich mit den Händen über den beachtlichen Bauch und fuhr sich mit der Zungenspitze über die ebenso beachtlichen Lippen. Dann machte er sich daran, die Zwillinge als abschreckendes Beispiel hinzustellen. Das tat er gern mit seinen Schülern. Seiner Meinung nach gehörte das zu seinen Aufgaben als Lehrer.
»Fangen wir mal ganz von vorn an. Warum habt ihr sie vergessen?«
»Unsere kleine Schwester hatte heute Morgen ihre erste Prüfung«, erklärte Bowman. »Wir mussten schon früh aus dem Haus und haben einfach nicht daran gedacht.«
»Ihr habt einfach nicht daran gedacht? So, so.« Dr. Batch mochte faule Ausreden. »Hand hoch«, sagte er zu den übrigen Schülern, »Hand hoch, wer heute Morgen ebenfalls an einer Kleinkindprüfung teilgenommen hat.«
In den engen Tischreihen schossen ein Dutzend Hände nach oben, darunter auch die Hand von Rufy Blesh.
»Und Hand hoch, wer noch seine Hausaufgaben vergessen hat.«
Alle Hände gingen wieder runter.
Dr. Batch drehte sich zu Bowman um. »Anscheinend seid ihr die Einzigen.«
»Ja, Sir.«
Kestrel gab während dieser Prozedur keinen Laut von sich. Doch Bowman konnte die Gedanken in ihr brodeln hören und er wusste, dass sie wieder einmal von wilder Wut erfüllt war. Dr. Batch nahm nichts davon wahr und begann auf und ab stapfend den rituellen Wortwechsel mit der Klasse.
»Schüler! Was passiert, wenn ihr eure Aufgaben nicht erledigt?«
Aus einundfünfzig jungen Mündern kam die bekannte Antwort. »Kein Fleiß, keine Verbesserung.«
»Und was passiert, wenn ihr euch nicht verbessert?«
»Keine Verbesserung, keine Punkte.«
»Und was passiert, wenn ihr keine Punkte bekommt?«
»Wer keine Punkte bekommt, wird Letzter.«
»Letzter.« Dr. Batch genoss dieses Wort. »Letzter! Letzter!«
Die ganze Klasse schauderte. Letzter! Wie Mumpo, der dümmste Junge der Schule. Einige drehten sich verstohlen zu ihm um und schauten ihn an: Zitternd und mit finsterem Blick saß er in der letzten Reihe, auf dem Platz der Schande. Der verrückte Mumpo, auf
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