Der Winterschmied
gewesen, aber Fräulein Verrat beherrschte das Borgen, eine spezielle Hexenfähigkeit. Sie konnte die Augen von Tieren benutzen und entnahm das, was sie sahen, direkt ihrem Gehirn.
Mit fünfundsiebzig war sie taub geworden, aber auch daran hatte sie sich gewöhnt und griff auf all die Ohren zurück, die sie zu fassen kriegte.
Zu Anfang, als Tiffany zu ihr gekommen war, hatte sie eine Maus fürs Sehen und Hören verwendet, denn ihre Dohle war gestorben. Es hatte Tiffany ein wenig irritiert zu sehen, wie die alte Frau mit einer Maus auf der ausgestreckten Hand durch ihr Häuschen ging. Richtig beunruhigend wurde es, wenn man etwas sagte und sich die Maus dann zu einem umdrehte. Es ist erstaunlich, wie unheimlich eine zuckende kleine rosarote Schnauze sein kann.
Die neuen Raben waren viel besser. Jemand aus einem der Dörfer hatte eine Sitzstange angefertigt, die sich die Alte auf die Schultern setzen konnte. Darauf hockten die Raben rechts und links von ihrem Kopf, und in der Mitte leuchtete Fräulein Verrats langes weißes Haar. Es sah sehr, sehr hexisch aus, obgleich am Ende des Tages die Rückseite ihres Mantels recht schmutzig war.
Und dann die Uhr. Sie war schwer und aus rostigem Eisen hergestellt, von jemandem, der mehr Schmied als Uhrmacher war. Deshalb machte sie nicht Ticktack, sondern Klonkklank. Fräulein Verrat trug sie am Gürtel und las die Zeit ab, indem sie die kurzen, dicken Zeiger befühlte.
In den Dörfern erzählte man sich, dass die Uhr Fräulein
Verrats Herz war - angeblich benutzte sie es seit dem Tod ihres ersten Herzens. Aber man erzählte sich viel über Fräulein Verrat.
Man durfte auf Seltsamkeit nicht allzu empfindlich reagieren, wenn man mit Fräulein Verrat zurechtkommen wollte. Die Tradition verlangte, dass junge Hexen umherreisten und bei älteren Hexen wohnten, um von ihnen zu lernen. Als Gegenleistung verpflichteten sie sich zu etwas, das die Hexensucherin Fräulein Tick »ein wenig Hilfe bei der Hausarbeit« nannte. In Wirklichkeit war damit »die ganze Hausarbeit erledigen« gemeint. Die meisten jungen Hexen verließen Fräulein Verrat nach einer Nacht. Tiffany hatte es bislang drei Monate bei ihr ausgehalten.
Oh... und manchmal, wenn sie nach einem Paar Augen zum Sehen suchte, stahl sich Fräulein Verrat einem in den Kopf. Ein sonderbares Prickeln ging damit einher, als sähe einem ein Unsichtbarer über die Schulter.
Ja... in Sachen Seltsamkeit schoss Fräulein Verrat nicht bloß den Vogel ab. Sie holte einen ganzen Schwärm herunter.
Fräulein Verrat saß an ihrem Webstuhl, als Tiffany hereinkam. Zwei Schnäbel wandten sich ihr zu.
»Ach, Kind«, sagte die alte Hexe mit einer dünnen, krächzenden Stimme. »Du hattest einen schönen Tag.«
»Ja, Fräulein Verrat«, erwiderte Tiffany gehorsam.
»Du bist bei der jungen Wetterwachs gewesen, und es geht ihr gut.« Klickklack machte der Webstuhl. Klonkklank machte die Uhr.
»Sehr gut«, sagte Tiffany. Fräulein Verrat stellte keine Fragen. Sie nannte einem die Antworten. Die junge Wetterwachs, dachte Tiffany, als sie mit der Zubereitung des Abendessens begann. Aber Fräulein Verrat war sehr alt.
Und sehr gruselig. Das war eine Tatsache. Es ließ sich nicht leugnen. Ihre Nase war nicht krumm, und sie hatte noch all ihre Zähne, auch wenn sie inzwischen gelb geworden waren, doch abgesehen davon konnte man sie als Bilderbuchhexe bezeichnen. Ihre Knie knackten, wenn sie ging. Und sie ging sehr schnell, mit Hilfe von zwei Stöcken - damit flitzte sie umher wie eine dicke Spinne. Auch das war seltsam. Das kleine Haus war voller Spinnweben, die Tiffany nicht anrühren durfte, aber man sah nie eine Spinne.
Und dann ihr Faible für Schwarz. Die meisten Hexen mochten Schwarz, aber Fräulein Verrat hatte sogar schwarze Ziegen und schwarze Hühner. Die Wände waren schwarz. Der Boden war schwarz. Wenn man ein Stück Lakritz fallen ließ, fand man es nie wieder. Tiffany musste zu ihrem Entsetzen ihren Käse schwarz machen, was bedeutete, ihn mit glänzendem schwarzen Wachs zu bestreichen. Sie machte guten Käse, und das Wachs hielt ihn feucht, aber sie misstraute schwarzem Käse, denn er sah aus, als führte er irgendwas im Schilde. Außerdem schien Fräulein Verrat keinen Schlaf zu brauchen. Nacht und Tag spielten für sie inzwischen kaum mehr eine Rolle. Wenn die Raben schlafen gingen, rief sie eine Eule und webte mit deren Augen weiter. Eine Eule taugte besonders gut dazu, meinte Fräulein Verrat, denn sie folgte mit dem Kopf
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