Der Wohlfahrtskonzern
Menschen in diesen Dauerschlaf zu versetzen, aber soweit ich es verstanden hatte, war es unbedingt notwendig, die Temperatur der Suspendierten niemals plus zehn Grad übersteigen zu lassen. Bei Temperaturen darüber zeigten sie die unwillkommene Neigung zu verwesen.
Dies war, wie mir plötzlich bewußt wurde, die erste richtige und echte »Klinik«, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Ich wußte natürlich, daß die Gesellschaft über Hunderte, wenn nicht Tausende davon verfügte, die über die ganze Erde verstreut waren. Ich hatte sogar gehört, daß die Gesellschaft genug Gewölbe dieser Art hatte, hauptsächlich in abgelegenen Gegenden, um die gesamte menschliche Rasse auf einmal tiefzufrieren, obwohl dies nicht als besonders sinnvoll erschien. Ich hatte sogar einige häßliche, immer im Spekulativen verbliebene Gerüchte darüber gehört, warum die Gesellschaft so viele Kliniken errichtet hatte – aber wenn die Leute anfingen, solche lächerlichen Anspielungen zu machen, war es natürlich meine Pflicht klarzustellen, daß ich nicht bereit war, mir ein derart subversives Gerede anzuhören. Ich erfuhr daher niemals die Einzelheiten – und wenn, so hätte ich sie auch nicht einen Augenblick lang geglaubt.
Wie bereits erwähnt, war es noch sehr früh am Morgen, aber so, wie es aussah, war ich keineswegs der erste, der an der Klinik aufgetaucht war. Auf dem spärlichen Gras vor dem Gebäude standen Menschen in sechs bis acht Gruppen apathisch herum. Einige starrten mich haßerfüllt an, als ich näherkam, andere blickten nur stumpf vor sich hin. Aus einer Gruppe von zehn bis zwölf Frauen mittleren Alters, an der ich vorbeiging, hörte ich die Worte: »Benedetto non e morte «. Ich hatte den Eindruck, daß die Worte an mich gerichtet waren, aber mit »Benedetto ist nicht tot« wußte ich nichts anzufangen. Der einzige Kommentar, den mein leicht übermüdeter Verstand zustande brachte, war: »Und?«
Ein riesiger bewaffneter Expedient ließ mich unter Gähnen in das Chefbüro ein. Ich erklärte ihm, daß Mr. Defoe nach mir geschickt habe, mußte aber trotzdem noch eine halbe Stunde warten, bis er bereit war, mich zu empfangen. Dann wurde ich zu seinen Räumen geführt. Das war vielleicht tatsächlich mal eine Klinik gewesen; das antiseptische, deprimierende Erscheinungsbild eines wirklichen Krankenzimmers war immer noch vorhanden. Eines für, sagen wir, C-Kategorieler mit Muskelschwund in den äußeren Gliedmaßen. Nun aber hatte man es in eine private Gästesuite umgewandelt, mit luxuriöser Drapierung und tiefen, gepolsterten Lehnstühlen, die auf den höhenverstellbaren Betten und den Edelstahlgestängen befestigt worden waren.
Ich hatte Defoe lange nicht gesehn, aber er hatte sich überhaupt nicht verändert. Er war wie immer das perfekte Beispiel eines hochrangigen Exekutivbeauftragten der Gesellschaft. Er gab sich formell, aber nicht unzugänglich. Er war groß, hager, hatte vornehm wirkende graue Schläfen und trug die traditionelle Weste mit Seidenschleife. Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung: Er gehörte zu Mariannas Familie, und zwar zu jenem Flügel, über den sie etwas erzählte. Sie flatterte drei volle Tage herum, stöberte unsere Blauer-Teller-Policen durch, bis sie alle nur denkbaren exotischen Gerichte herausgesucht hatte, plante die Fernsehprogramme vor, die unsere Unterhaltungspolicen anboten, suchte die respektabelsten unserer Freunde aus – der Ausdruck Bekannte wäre wohl richtiger, Marianna schloß nicht so leicht Freundschaften – um ein Abendessen zu veranstalten. Er kam pünktlich mit dem Glockenschlag, und er brachte etwas mit, das unbezweifelbar seine Vorstellung eines fürstlichen Geschenks für Jungvermählte war: eine voll bezahlte Zusatzdeckung für Mutterschaftsgeld als Anhang zu unseren Blauer-Generalschirm-Policen der Gesellschaft.
Wir dankten ihm überschwenglich. Und ich für meinen Teil auf jeden Fall auch aufrichtig. Das war, bevor ich wirklich begriffen hatte, was Marianna von Kindern hielt.
Als ich eintrat, stand er gerade, mit dem Rücken zu mir, an einem kleinen Waschbecken und betrachtete sich intensiv in dem darüber hängenden Spiegel. Er schien eben mit dem Rasieren fertig zu sein, und ich rieb mir mein stoppeliges Kinn. Er sah mich im Spiegel und sagte über die Schulter: »Guten Morgen, Thomas! Setzen Sie sich!« Ich setzte mich auf den Rand eines gewaltigen Ohrensessels. Er krauste die Lippen, zog die Haut unter dem Kinn glatt und sagte, als er
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