Der Wolf
anhand dessen man Sie identifizieren könnte?«
»Nein.«
»Wie steht es mit dem Internet? Ein Identitätsdiebstahl oder …«
»Nein.«
»Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Ihnen aus irgendeinem Grund schaden will?«
»Nein.«
Der Detective seufzte, was Karen unprofessionell fand. Doch auch diesmal sagte sie nichts.
»Kommen Sie, Doktor, es muss da draußen irgendjemanden geben, dem Sie, vielleicht sogar ohne es zu merken, auf die Füße getreten sind. Haben Sie je einen Patienten falsch diagnostiziert? Oder jemandem eine medizinische Leistung vorenthalten, und derjenige wurde krank oder verstarb sogar? Hat Sie schon mal ein unzufriedener Patient verklagt?«
»Nein.«
»Ihnen fällt also absolut niemand ein …?«
»Nein, sag ich ja, nein.«
Der Detective schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr.
»Und könnte es sein, dass Ihnen jemand einfach einen Streich spielen will?«
Das bezweifelte Karen. Ein paar der Comedians, die sie in den Clubs traf, hatten zwar einen etwas schrägen Sinn für Humor, und es konnte vorkommen, dass über die Konkurrenten mit Witzeleien hergezogen wurde, die durchaus etwas Sadistisches hatten und verletzten – doch ein Brief wie der auf dem Küchentisch ging entschieden über jeden Spaß hinaus, den sich selbst der schrillste Vogel einfallen lassen würde. »Nein. Und ich finde die Sache auch nicht besonders komisch.«
Sie sah im Geiste vor sich, wie der Detective am anderen Ende der Leitung die Achseln zuckte. »Also, ich fürchte, im Moment können wir da nicht allzu viel tun. Ich kann dafür sorgen, dass die Streifenwagen routinemäßig ein bisschen häufiger Ihre Straße abfahren. Ich werde die Angelegenheit bei unserer Tagesbesprechung erwähnen. Aber solange es keine offenkundige Tat gibt …«
Der Polizist sprach den Satz nicht zu Ende.
»Der Brief ist keine offenkundige Tat?«
»Ja und nein.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Na ja«, fuhr der Detective in einem Ton fort, der nach einem Vortrag vor einer Highschoolklasse über die Polizeiarbeit klang, »eine schriftliche Drohung stellt eine Straftat zweiten Grades dar. Aber Sie sagen, Sie haben keine Feinde – jedenfalls nicht, dass Sie wüssten –, und Sie haben nichts getan, das eine solche Drohung erklären könnte. Und es ist nichts weiter passiert – außer diesem Belästigungsbrief …«
»Meinen Sie nicht, Detective Clark, dass es mehr als eine Belästigung ist, wenn Ihnen jemand sagt, Sie seien ausgewählt worden zu sterben?«
Karen wusste, dass sie übertrieben steif und gestelzt klang. Sie hoffte, den Polizisten damit ein bisschen auf Trab zu bringen, doch es hatte die gegenteilige Wirkung.
»Doktor, ich würde das eher als einen bizarren Vorfall verbuchen oder jemandem mit einem lausigen Sinn für Humor zuschreiben, irgendwem, der Ihnen aus welchem Grund auch immer ein kleines bisschen Angst einjagen möchte, und die Sache vergessen, bis tatsächlich etwas passiert. Es sei denn, Sie sehen, wie Ihnen jemand folgt, oder Sie stellen fest, dass Ihr Bankkonto geplündert wurde oder so was in der Art. Oder jemand fordert Geld von Ihnen. In so einem Fall …«
Er zögerte, bevor er fortfuhr. »Bei den Fällen von Bedrohung, die wir zu sehen bekommen, handelt es sich meistens um einen Stalker. Jemanden mit einer Obsession für einen Lehrer oder einen Kollegen, den früheren Freund beziehungsweise die Freundin. Aber es ist immer eine Person, mit der man in Beziehung gestanden hat. Die Drohung ist im größeren Zusammenhang eines zwanghaften Verhaltens zu sehen. Aber davon kann hier offenbar nicht die Rede sein, oder? Haben Sie das Gefühl, dass Sie jemand verfolgt?«
»Nein, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Also, überlegen Sie mal. Ist bei Ihnen sonst irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Nein.«
»Sehen Sie.«
»Sie meinen, ich kann absolut nichts dagegen tun?«
»Nein. Ich meine, es gibt nichts, was
wir
tun können. Selbstverständlich sollten Sie Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Haben Sie eine Alarmanlage im Haus? Falls nicht, legen Sie sich lieber eine zu. Vielleicht schaffen Sie sich einen großen Hund an. Halten ein wachsames Auge auf die Leute, mit denen Sie in den letzten Monaten in Kontakt gekommen sind. Stellen Sie eine Liste von allen zusammen, denen Sie möglicherweise auf den Schlips getreten sind oder die einen Groll gegen Sie hegen könnten. Kann auch nicht schaden, mal Ihre Patienten unter die Lupe zu nehmen und deren Familien mit einzubeziehen. Vielleicht hat
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