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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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kannte, darf die neue Cynthia sehen.
    Sie öffnete die Tür und betrat das Kellergeschoss der Kirche.
    Nicht weit von ihr zischte ein Heizkörper, und irgendwo schepperten verborgene, dampfgefüllte Rohre. Sarah lief zielstrebig unter dem kalten Licht nackter Glühbirnen einen schmalen, weißgetünchten Flur entlang. Am Ende öffnete sich der Korridor in einen größeren Raum mit einer niedrigen, schalldichten Decke und Linoleumboden. An einer Wand war ein leeres Podium, vor dem mehrere Reihen stählerner Klappstühle standen. Es war ein schäbiger, trostloser Raum, und sie vermutete, dass hier die Treffen der Anonymen Alkoholiker stattfanden.
    In einer Ecke stand eine Tür offen, und sie hörte Stimmen. Sie folgte ihnen und entdeckte Karen an einem massiven Eichentisch. An den Wänden hingen Fotos von einem grauhaarigen Mann in Priesterrobe beim Gottesdienst sowie ein paar gerahmte Theologiediplome, doch von dem Priester war nichts zu sehen. Jordan stand neben Karen und hantierte mit einer Kamera, ein paar Kabeln und einem Laptop.
    Jordan sah auf und sagte grinsend: »Hey, wandelnde Tote. Wie geht’s?«
    »Nicht schlecht. Gewöhne mich allmählich daran«, sagte Sarah.
    »Cool.«
    Karen kam herüber und umarmte Sarah, was die jüngere Frau überraschte, auch wenn sie die Wärme in der Geste spürte. Nicht direkt die Umarmung einer Freundin, doch ein unausgesprochenes
Wir stehen das zusammen durch.
    »Wie ist es gelaufen?«, fragte Sarah. Was konnte absurder sein, als sich danach zu erkundigen, wie die eigene Totenfeier aufgenommen worden war, doch sie verdankten es dem Wolf, dass sie Fragen stellten, die außerhalb aller vertrauten Normen lagen.
    Karen zuckte die Achseln und verzog das Gesicht zu einem süßsauren Lächeln. »Gut. Etwas seltsam, aber gut. Du hattest viel mehr Freunde, als du gedacht hast. Die Leute waren offenbar wirklich traurig darüber …« Sie führte den Satz nicht zu Ende, doch Jordan sprang ein.
    »… dass du dir das Leben genommen hast.«
    Der Teenager grinste und lachte.
    Sarah brachte ein schwaches Lächeln zustande. Sie fand ihre Situation nicht im mindesten komisch, weder was sie getan hatten, noch was sie zu tun gedachten, auch nicht ihren Abschied von ihrem alten Leben. Andererseits traf Jordans Reaktion das Ganze im Kern: Es war zum Totlachen, ein toller, gelungener Streich.
    Die drei Roten schwiegen einen Moment.
    »War er da?«, fragte Sarah.
    »Wenn ich das wüsste«, erwiderte Karen. »Es waren eine ganze Reihe Männer da, auch Familien, aber mir ist kein bestimmter Mann ins Auge gesprungen. War ja nicht zu erwarten, dass er sich ein Schild umhängt,
Gestatten, böser Wolf,
oder dass er sonst irgendwie aus dem Rahmen fällt. Ich hab versucht, mit jedem Blickkontakt aufzunehmen, aber das war schwerer als gedacht.«
    »Er muss da gewesen sein«, sagte Jordan im Brustton der Überzeugung und dem jugendlichen Selbstvertrauen, sich einer Sache hundertprozentig sicher zu sein. Die anderen beiden Roten waren älter und neigten daher eher zu Zweifeln. »Also mal ehrlich, wie könnte er wegbleiben, wo doch die Feier letztlich sein Werk war? Die ganze Zeit haben wir den Scheißkerl im Nacken, und so eine Gelegenheit soll er sich entgehen lassen? Das wäre wie sechs Richtige im Lotto, und du hältst es nicht für nötig, den Schein einzulösen.«
    Karen hingegen fielen tausend Gründe ein, weshalb der Wolf beschlossen haben könnte fernzubleiben. Oder auch nur einer, dachte sie, ohne es auszusprechen.
Weil er clever ist und es gar nicht nötig hatte, dort zu sein, weil er irgendwo da draußen auf uns lauert. Um die nächste Ecke oder in meinem Haus oder in meiner Praxis oder ganz woanders, wo ich nicht mit ihm rechne und wo ich sterben werde.
    Sie schüttelte den Kopf, nicht über Jordans Gewissheit, sondern um die Ängste abzuschütteln, die sie bestürmten.
    Plötzlich blitzte in ihrem Kopf ein seltsamer Gedanke auf, eine Erinnerung aus einem Literaturkurs am College, an dem sie Jahre vor ihrer Ausbildung in organischer Chemie, in Statistik und Physik und der endlosen Facharztausbildung teilgenommen hatte. Es war ein Kurs über die Literatur des Existentialismus gewesen, und sie hatte seit Jahrzehnten nicht mehr daran gedacht.
    Mutter ist heute gestorben. Vielleicht auch gestern; ich weiß es nicht genau.
    Sie hätte schreien können.
    Karen stirbt morgen. Vielleicht auch übermorgen; ich weiß es nicht genau.
    Jordan tippte in die Computertastatur und sah dann zu ihnen auf. »Hey, es

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