Der Wolf
Lautsprechern drang, umnebelte sie wie Rauch, und sie hatte das Gefühl, als trübte ihr die Musik die Sicht. Sie wartete, bis die Letzten in der Schlange die Gelegenheit ergriffen hatten, etwas ins Gedenkbuch zu schreiben, dann stand sie auf. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie der junge Bestattungsunternehmer einen Schalter an der Wand ausknipste und die Musik abrupt zum Verstummen brachte. Sie warf einen kurzen Blick über die Trauergäste und stürzte sich in ihre Rede.
»Zunächst einmal möchte ich Ihnen allen danken, dass Sie gekommen sind. Es ist wunderbar, wie zahlreich Sie erschienen sind, und meine Freundin Sarah hätte sich sehr gefreut, so viele Menschen zu sehen.«
Am liebsten hätte sie jedem einzelnen Zuhörer im Raum ins Gesicht gesehen, als könnte sie den Bösen Wolf am Funkeln seiner Augen erkennen, doch stattdessen sprach sie mit gesenktem Kopf, als ginge ihr der traurige Anlass dieser inszenierten Feier zu nahe. Sie hoffte, dass Jordans Kamera die Gäste an ihrer Stelle ins Visier nahm. Sie las Worte vor, die nichts als leere Phrasen waren, und bemühte sich um einen andächtigen, respektvollen Ton, während sie am liebsten laut geschrien hätte.
Es war ein riskantes Spiel, keine Frage.
Vielleicht ist er zu gerissen und bleibt weg, dann ist das alles hier für die Katz gewesen.
Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht zieht es ihn hierher, und er kann, nachdem er einmal Witterung aufgenommen hat, nicht widerstehen.
Darauf bauten die drei Roten.
Sie dachte an die alte Redensart: Neugier ist der Katze Tod.
Vielleicht bricht sie auch einem Wolf das Genick.
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36
S chon komisch, dachte er, dass ich nach all den Morden, die ich begangen habe, einfach ungern zu Beerdigungen gehe. Die schlagen mir wirklich aufs Gemüt. Zu viel Druck auf die Tränendrüse und geheuchelte Anteilnahme.
Er pfiff eine zusammenhangslose Tonfolge vor sich hin, keine erkennbare Melodie.
Reale Menschen wie die Roten. Erfundene Charaktere in meinen Büchern. Eine Vielfalt an Möglichkeiten, von meiner Hand zu sterben. Ob auf einer Romanseite oder aufgebahrt in einer Leichenhalle, bevor man im Krematorium oder unter der Erde verschwindet – so oder so ist man mausetot. Ob man an Altersschwäche, Krankheit oder eines plötzlichen Todes stirbt, durch ein Messer oder eine Pistole oder gar nach Lust und Laune eines Autors, am Ende läuft es aufs selbe hinaus.
Er schnaubte verächtlich, als ihm bewusst wurde, dass er wie ein Pfaffe klang, der sich selbst eine Predigt hielt. »Asche zu Asche. Staub zu Staub«, sagte er in aufgesetzt feierlichem Ton.
Der Böse Wolf war stolz darauf, wie er seine fiktionalen Welten perfekt mit der Realität in Deckung brachte. In beiden Welten war er ein Mörder. Für ihn gab es kaum noch einen Unterschied zwischen den drei Roten und ihrer Verarbeitung zu Romanfiguren. Beide Welten, die Wirklichkeit und die Fiktion, meisterte er souverän. Die Gewissheit, an beiden Schauplätzen so routiniert zu sein, erfüllte ihn mit einer diebischen Freude.
»Ticktack, ticktack. Die Uhr tickt, meine Damen«, sagte er leise. Er kicherte und überlegte, was letztlich verlockender war: zu töten oder darüber zu schreiben. Beides hatte einen unwiderstehlichen Reiz.
Das Einzige, was ihm nach wie vor zu schaffen machte, war die Frage, wie er in seinem Buch den Tod von Rote Zwei behandeln sollte. Eine jener Verwicklungen, die Schriftsteller so oft zu lösen versuchten. James Ellroy zum Beispiel, einer seiner Lieblingsautoren.
Stadt der Teufel. Er fügt die Erzählfäden gerne zu komplizierten Szenarien zusammen und windet sich dann mit einer stringenten, treffsicheren Sprache spielend leicht wieder heraus. Und mit Gewalt. Jeder Menge Gewalt. Die Brutalität, die er in sein Ende packt, bleibt einem immer vor Augen.
Der Böse Wolf wusste, dass er ihre letzten Sekunden am Rand der Brücke ebenso lebendig schildern musste wie das, was er Rote Eins und Rote Drei zugedacht hatte. Nur war er leider nicht dabei gewesen. Er fluchte laut. Auf jeden Fall mussten die Leser begreifen, dass er ihr, als sie sich in die dunklen Fluten stürzte, den entscheidenden Stoß versetzt hatte.
»Du weißt genug. Du kennst die Einzelheiten. Es ist nur eine Frage der angemessenen Beschreibung«, sagte er. Es tat ihm immer gut, sich in der zweiten Person anzusprechen.
Er ging die Liste durch:
Panik: ist dir bestens vertraut. Zweifel: verstehst du. Angst: Wer kennt sich darin besser aus als du? Bring sie alle in den letzten
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