Der Wolf
Gedanken von Rote Zwei zusammen, und du triffst den Nagel auf den Kopf.
Er beschloss, später zu Hause ein Bad zu nehmen und mit dem Kopf ganz unter Wasser zu tauchen, um die Erfahrung des Ertrinkens zu simulieren.
Ist zwar nicht dasselbe – keine schwarzen Wassermassen und Strömungen, die dich nach unten ziehen. Aber du wirst es so weit nachvollziehen können, dass die Darstellung überzeugt.
Halte so lange die Luft an, bis du fast ohnmächtig wirst, dann weißt du’s.
So müsste es funktionieren.
Du musst kennen, worüber du schreibst. Hemingway kannte den Krieg. Dickens kannte die britische Klassengesellschaft. Faulkner kannte den Süden.
In allen guten Schriftstellern steckt ein Journalist.
Er hatte seinen Wagen auf einem kleinen unbefestigten Parkplatz am Eingang eines Wildgeheges abgestellt, unweit des Hauses von Rote Eins. Der Park grenzte an die Rückseite ihres Grundstücks. Es gab einen Wanderweg, den die Körnerfresser und Naturapostel der Gegend liebten und der zunächst in den Wald und anschließend einen steilen, aber nicht allzu unwegsamen Pfad zu einem Hügel hinaufführte, wo er einen mit einem herrlichen Blick über das Tal belohnte, in dem er selbst und die drei Roten lebten. Es war ein beliebtes Ausflugsziel, und der Parkplatz war an einem Sonntagmorgen nicht selten mit einem guten Dutzend Autos zugeparkt, und man hörte das Lachen der Wanderer auf ihrem Auf- oder Abstieg. An Wochentagen dagegen war der Platz meist leer, da es nicht viele gab, die nach einem langen, öden Arbeitstag die Energie für eine noch so kleine Wanderung aufbrachten. An diesem Nachmittag standen gerade mal drei Autos auf dem Parkplatz, obwohl es Samstag war. Der grau verhangene Himmel kündigte Regen an, und es war so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte, als er die Scheibe herunterließ. In höheren Lagen konnte es Schneegestöber geben. Das war bedenklich. Er wollte keine Spuren auf gefrorenem Boden hinterlassen. Auf nassem, weichem Grund würden seine Spuren schnell verwischt, doch Matsch, der später, mit sinkender Temperatur gefror, würde sein Profil fast so gut erhalten wie eine Gipsform. Er hatte von mehr als einem Mörder gelesen, der durch einen gut erhaltenen Schuhabdruck überführt worden war, und er war sich bewusst, dass selbst die Dorftrottel vom hiesigen Revier wussten, wie man Schuh- und Reifenabdrücke identifizierte.
Er sah sich um. Auch wenn nur ein paar unentwegte Wanderer unterwegs waren, musste er sichergehen, dass ihn keiner dabei beobachtete, wie er etwas ungeschickt einen billigen blauen Anzug gegen Jeans, einen Fleecepullover und einen Regenmantel wechselte – Alltagskleidung gegen Wanderkluft. Er musste sich auf dem Vordersitz seines Wagens verrenken, als er aus der Hose schlüpfte, und wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er nicht jünger wurde. Es knirschte in seinen Knien, und er bekam einen steifen Rücken, da war nichts zu machen. Er schüttelte seine schicken Schuhe ab, zog sich dicke Wollsocken an und schlüpfte in derbe, wasserdichte Wanderstiefel.
Nachdem er sich umgekleidet hatte, überprüfte er den falschen Lippen- und Kinnbart im Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass er ihm noch richtig im Gesicht saß und nicht verrutscht war, als er sich in den Rollkragenpullover gezwängt hatte.
Aus den guten alten Zeiten vor der Einführung von Überwachungskameras hatte er von einem Bankräuber gelesen, der sich nie hinter irgendwelchen Masken versteckte, sondern sich vor jedem Überfall mit Theaterschminke eine brutale falsche Narbe im Gesicht verpasste, die von einer Augenbraue über die Wange bis unters Kinn verlief. Der kannte sich mit der Psychologie des Verbrechens aus, dachte der Böse Wolf. Jedes Mal, wenn die Polizei Kassierer und andere Zeugen um eine Personenbeschreibung des Täters bat, hatten sie einhellig erklärt: »Den können Sie nicht verfehlen, denn er hat diese Narbe …«, die sie anschaulich beschrieben. Sie sahen nichts weiter als diese falsche Narbe. Weder Haar- noch Augenfarbe, die Form seiner Wangenknochen, die Konturen von Nase und Kinn. Die Geschichte hatte ihm schon immer gefallen. Die Leute sahen nur das, was ins Auge sprang, die Feinheiten entgingen ihnen.
Doch die Feinheiten waren sein leidenschaftliches Credo.
Aus dem Kofferraum seines Autos holte er einen Rucksack in grellem Pink, den er in einer Drogerie gekauft hatte. Er war mit einem galoppierenden Einhorn geschmückt. Mädchen im Kindergartenalter liebten so etwas. Außerdem
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