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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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funktioniert. Es kann losgehen!« Sie stieß ein sarkastisches Lachen aus. »Fehlt nur noch das Popcorn.«
    Die drei Frauen beugten sich über den Schreibtisch und starrten auf den Bildschirm, der sich mit Leben füllte: Menschen, die zum Gedenkgottesdienst hereinkamen. Im Hintergrund spielte die Musikkonserve. Da die Besucher sich still und respektvoll verhielten, war kaum etwas anderes zu hören, während sie, ohne es zu wissen, vor die Linse der Kamera traten und wieder verschwanden.
    »Stellt euch ein Dreieck vor«, sagte Karen leise. »Wenn man sich über einen Ort einen Überblick verschaffen will, denkt man an ein Dreieck, das gibt einem die Antwort, die man braucht.«
    »Das sind wir«, sagte Jordan. »Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei. Drei Schenkel eines Dreiecks.«
    »Seht genau hin«, fuhr Karen fort. »Sarah, du solltest jeden identifizieren, den du kennst.« Sie schlug das Gedenkbuch auf, das sie vom Bestattungsinstitut bekommen hatten, in das die Leute kurze Bemerkungen eingetragen oder auch nur ihre Unterschrift gesetzt hatten.
    Sarah starrte auf die erste Person, die auf dem Video zum Buch ging.
    »Also, das ist mein Nachbar mit seiner Frau und ihren beiden Söhnen. Der rot-weiß-blaue Superpatriot, durch dessen Garten du geschlichen bist«, sagte sie zu Karen.
    Karen nahm einen Bleistift und machte hinter dem Namen im Buch ein Häkchen.
    »Das sind die Eltern einer meiner Schülerinnen. Und das ist sie selbst. Sie war in meiner letzten Klasse, bevor ich gekündigt habe. Sie ist ganz schön gewachsen.«
    Sarah war kurz davor zu weinen. »Sie ist so hübsch geworden«, fügte sie im Flüsterton hinzu.
    Abgehakt.
    »Weiter«, sagte Karen linkisch.
    Ein Gesicht nach dem anderen zog über den Bildschirm, und Sarah gab ihnen Namen und Zusammenhänge. Jordan ließ das Video zwischendurch per Maustaste langsamer laufen und hielt es bei ein, zwei Gelegenheiten an, bis Sarah die Person eingeordnet hatte. Mal stellte sie die Verbindung spontan, mal erst nach einigem Nachdenken her. Es erinnerte ein wenig an ein experimentelles Theaterstück, bei dem es keinen Dialog und keine Handlung gab, sondern nur einzelne Bilder, die einen unverwechselbaren, tiefen Eindruck hinterließen. Mehrfach musste Sarah eine Pause einlegen, im Zimmer auf und ab laufen und tief in ihrer Erinnerung kramen, bis ihr einfiel, wer es war. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die drei Roten jedem Mann in der Besucherschlange.
    »Komm schon, verdammt noch mal«, flüsterte Jordan. »Ich weiß, dass du da bist.«
    Der Strom verebbte und kam schließlich zum Stillstand.
    »Mist, Mist, Mist«, fluchte Jordan, als auf dem Computerbildschirm nur noch das Gedenkbuch zu sehen war. Die Musik verstummte, und sie hörten die ersten Worte von Karens Trauerrede. »Scheißkerl«, fügte Jordan hinzu.
    »Sehen wir es uns noch mal an«, sagte Karen ruhig. Dabei kämpfte sie gegen eine Woge der Panik an.
    »Er ist nicht gekommen«, sagte Sarah. Sie fühlte sich wie über einem Abgrund – als rutsche ihr Finger, der sich mit letzter Kraft um den Felsvorsprung krallte, ab und sie stürze in die Tiefe.
    Karen sah, wie Jordan die Fäuste ballte und in die Luft boxte, als hätte sie dort das Gesicht des Wolfs vor sich, das auf dem Video nicht zu sehen war.
    »Schauen wir es uns noch einmal an«, wiederholte Karen leiser, doch mit der Entschlossenheit der blanken Wut. »Wir haben etwas übersehen.«
    Innerlich nagte der Zweifel an ihr – vielleicht hatten sie ja doch nichts übersehen. Sie merkte, wie ihr vor Angst und Anspannung die Stimme versagte und ihr Puls zu rasen begann.
Das kann nicht umsonst gewesen sein.
Es war schließlich nicht so, dass sie noch einen Haufen Ideen im Ärmel hatte. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und es kostete sie eine gewaltige Willensanstrengung, dagegen anzugehen. »Noch mal von vorne. Und, Jordan, halte das Video diesmal bei
jedem
an, der sich einträgt.«
    Es war eine mühselige Angelegenheit. Langsam und bedächtig. Mit jedem Besucher, der als Wolf nicht in Frage kam, wuchs die Anspannung im Raum. Im Grunde wusste keine von ihnen, wonach sie suchten. Vielmehr ließen sie sich von der absurden Vorstellung leiten, auf etwas Eindeutiges zu stoßen – während jede von ihnen insgeheim fürchtete, dass das Gegenteil der Fall war.
    Jordan hätte sich am liebsten irgendeinen Gegenstand geschnappt und gegen die Wand geschleudert. Karen war danach zumute, so lange lauthals zu schreien, bis sie nicht mehr konnte.

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