Der Wolf
holte er einen knorrigen Wanderstock heraus, um den er einen Schal in Regenbogenfarben wickelte, ein klassisches Accessoire der hiesigen Schwulen und Lesben. Über den Kopf zog er sich eine marineblaue Strickmütze mit dem Logo der Footballmannschaft New England Patriots.
Diese Verkleidung stellte ein Sammelsurium an Ungereimtheiten dar, das ihn genau deshalb für jeden, dem er im Wald zufällig begegnete, praktisch unsichtbar machte.
Sie werden sich an all die falschen Dinge erinnern.
In seinen Rucksack hatte er sechs Gegenstände gepackt: ein Butterbrot, eine kleine Taschenlampe, eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Nachtsichtgerät für den Fall, dass er beschloss, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu bleiben, ein einklappbares Fernglas und ein Exemplar von Audubons
Vögel Amerikas.
Das Buch – das er nie gelesen oder auch nur aufgeschlagen hatte – war für jemanden wie einen Parkwächter bestimmt, der neugierig genug war, ihn anzuhalten, auch wenn der Böse Wolf bezweifelte, dass an diesem Nachmittag einer von ihnen auf den Wanderwegen unterwegs sein würde. Er hegte nicht wirklich die Absicht, einen Weißkopfadler oder eine Weißkehleule zu beobachten.
Er fing wieder an zu pfeifen. Eine unbeschwerte, fröhliche Melodie. Er sah auf die Armbanduhr. Das Timing ist wichtig, rief er sich ins Gedächtnis. Er wartete, bis der Sekundenzeiger auf zwölf sprang, dann machte sich der Böse Wolf so schnell er konnte an den Aufstieg. Er suchte nach der Kerbe, die er in einen Baumstamm am Wegesrand geschnitten hatte, um die Route durch den Wald zu markieren, die den Hang hinunter am Haus von Rote Eins vorbeiführte.
Probelauf, dachte er. Das nächste Mal wäre es kein rosa Kinderrucksack und kein Schwulenwanderstock. Das nächste Mal würde er nur sein Jagdmesser mitbringen.
Er fasste seinen Plan noch einmal zusammen:
Dienstag. Ein ganz gewöhnlicher Wochentag, langweilig, mitten in der Arbeitswoche. An einem Dienstag war nichts Besonderes.
Der kommende Dienstag würde da allerdings eine Ausnahme bilden.
Er zählte gewissenhaft die Minuten, die er brauchte, um sich seinen Weg durch das Dickicht des Waldes zu bahnen. Von da an würde er die Stunden bis Dienstag zählen.
Durch die Seitentür aus dem Haus. Am Eckladen und der Pizzeria vorbei.
Lauf geduckt, mit gesenktem Kopf und zügigen Schritten.
Rote Zwei eilte durch das dämmrige Licht des Spätnachmittags. Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Sie zog gegen die Kälte die Schultern ein und drückte das Kinn an die Brust. Sie trug eine alte, schwarze Baseballkappe, die schon ein wenig zerfleddert war und ihren Haarschopf kaum verbarg, aber besser war als nichts. Auf dem Schirm bildeten sich ein paar Tropfen.
Die Episkopalkirche war ihnen als ein guter Treffpunkt erschienen. Sie lag vier Blocks von dem Frauenhaus entfernt, in dem sich Sarah versteckte, fast unmittelbar an der Buslinie, die an Jordans Schule vorbeiführte. Zugleich war sie von dem Parkhaus aus, in dem Karen ihren Wagen abstellen und ein paarmal mit dem Fahrstuhl hinauf- und hinunterfahren konnte, um einen potentiellen Verfolger abzuschütteln, in einem kurzen Fußmarsch durch die Einkaufsstraßen in der Innenstadt bequem zu erreichen.
»Der Pastor hat im Kellergeschoss einen Raum, den wir benutzen dürfen«, hatte Rote Eins am Telefon gesagt. »Ich hab ihm erzählt, dass wir einer Freundin in
Safe Space
helfen müssten – dir, Sarah – und einen ungestörten Treffpunkt bräuchten. Er war äußerst verständnisvoll. Er sagte, er würde häusliche Gewalt oft in seinen Predigten anprangern, deshalb habe ich so getan, als ginge es um einen gewalttätigen Ehemann.«
Sie hatte nicht gesagt, »Kein Wolf wird uns in eine Kirche folgen«, ein Gedanke, der Sarah beflügelte, als sie den schwarzen, im Regen glitzernden Parkplatz überquerte. Irgendein absurder Gedanke über geweihten Boden geisterte ihr durch den Kopf, doch das betraf Vampire und nicht Wölfe.
Rote Eins hatte sie angewiesen, die Kirche nicht durch das Hauptportal zu betreten, und so lief sie zur Rückseite. Es gab einen kleinen Eingang zum Keller mit einem Schild und der Aufschrift:
Kein Zutritt während der Sonntagsgottesdienste. Die
AA
-Gruppe trifft sich montags, mittwochs, freitags,
19
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Sie trat in eine Pfütze, fluchte und hastete weiter. Sie fühlte sich fast wie ein Gespenst, als wäre sie plötzlich unsichtbar.
Liegt es an der Gedenkfeier? Eine Menge Leute halten mich für tot. Niemand, der die alte Sarah
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