Der Wolf
etwas Raubtierartiges.
Womöglich ist er selbst der Wolf, musste sie plötzlich denken.
Sie merkte, wie sich ihr der Magen zusammenzog. Sie presste die Lippen aufeinander und behielt ihre Geheimnisse für sich.
Der Direktor schwieg, bis die Stille das Zimmer füllte wie beißender Rauch. Nach einer halben Ewigkeit sagte er: »Also gut, Jordan. Sie wissen, dass Sie jederzeit kommen und mit mir reden können, wenn Sie das Bedürfnis haben. Und ich denke, es wäre gut, wenn Sie wieder zur Schulpsychologin gehen würden. Wenn Sie wollen und wenn Sie meinen, es könnte Ihnen helfen, mache ich gerne einen Termin für Sie aus …«
Eine Psychologin mit einer großen gottverdammten Knarre, dachte sie. Das könnte helfen. Oder vielleicht eine Psychologin, die im Nebenjob als Jägerin fungiert und Rotkäppchen mit ihrem Messer rettet. Nur dass dies nicht das Ende ist, das der Böse Wolf für seine Inszenierung vorgesehen hat, nicht wahr?
Sie ersparte sich die Antwort auf ihre eigene Frage.
Stattdessen stand sie auf und nickte, auch wenn das Nicken schnell in ein Kopfschütteln überging. Dann verließ sie das Büro des Direktors, lief zügig an seiner Sekretärin vorbei, die halb freundlich lächelnd, halb missbilligend in ihre Richtung blickte, eine breite Treppe hinunter zu den Türen, die auf das Schulgelände führten.
Die Luft war eisig, aber frisch, und sie hatte das Bedürfnis, ein paar Stücke von der Kälte abzubeißen und zu kauen. Am liebsten wäre sie sofort zur Turnhalle gegangen, um mit dem Training zu beginnen und schneller zu laufen als jedes andere Mädchen in der Mannschaft. Sie wollte schwitzen, sie wollte sich mit Wucht gegen andere Körper werfen. Falls sie einen Ellbogen an die Lippe bekäme und blutete, wäre ihr das egal. Falls sie umgekehrt eine Teamkameradin verletzte, würde ihr das ebenso wenig Kopfzerbrechen bereiten. Sie lief ein Stück Richtung Wohnheim, wo sie ihre Bücher aufs Bett werfen wollte, um gleich darauf zu den Trainingsplätzen zu gehen, als ihr ein entmutigender Gedanke in den Kopf schoss: Wenn ich im Wohnheim ankomme, liefern sie gerade die Post aus.
Sie wusste nicht, dass sie ein weiterer Brief vom Wolf erwartete, doch die Panik, die sie elektrisierte und unkontrollierbar durchzuckte, sagte ihr, das es so war. Sie hasste das Gefühl, etwas zu wissen, dass eigentlich nicht sein konnte, aber trotzdem
stimmte.
Und so blieb sie abrupt in der Kälte stehen. Es wird ein zweiter Brief da sein, dachte sie. Keine Ahnung, woher ich das weiß, aber ich weiß es.
Natürlich lag sie teilweise richtig.
Wie beim ersten Mal wartete je ein Umschlag auf Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei.
Doch diesmal steckte kein Brief darin.
Vielmehr enthielt jeder Umschlag ein Blatt mit nur einer einzelnen Zeile.
Karen Jayson bekam:
http://Youtube.com/watch?v=wsxty 1 xl:Red 1
Sarah Locksley erhielt:
http://Youtube.com/watch?v=wftgh 1 xl:Red 2
Und auf Jordan Ellis wartete:
http://Youtube.com/watch?v=hgtsv 1 xl:Red 3
Jedes Blatt war mit den Initialen BW gezeichnet.
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10
Das größte Dilemma des Mörders besteht darin, den richtigen Grad an Nähe zu ermitteln. Man muss dem Opfer nahe sein, aber nicht zu nah. Die Gefahr lässt sich am besten mit einem alten Klischee beschreiben: Wie die Motte zur Flamme, so zieht es einen zu seinem künftigen Opfer hin. Verbrenne dich nicht. Andererseits ist die Interaktion ein unverzichtbares Element des Todestanzes. Der Wunsch zu hören, zu berühren, zu riechen ist übermächtig. Schmerzensschreie sind wie Musik. Das Gefühl der Nähe, wenn der Mord vollzogen wird, ist berauschend. Man denke nur an alle Zutaten zu einer Gourmetmahlzeit, und wie die ganze Mischung, wie jedes Gewürz, jede Geschmacksnuance und jedes Lebensmittel, das Verwendung findet, sich zu einem Erlebnis vereinen. Ein Fünf-Sterne-Essen hinzuzaubern unterscheidet sich in nichts von der einfallsreichen Gestaltung eines perfekten Mords.
Im Märchen verfolgt der Wolf Rotkäppchen nicht nur durch den Wald. Diese Interpretation wäre viel zu simpel. Er ist dort zu Hause. Er verfügt über doppelt, vielleicht dreimal so viele Ressourcen wie das Mädchen. Er hat schärfere Augen, einen unendlich überlegenen Geruchssinn. Er kann schneller laufen als sie. Er ist ihr im Denken voraus. Er ist in seinem Element, mit jedem Baum, mit jedem moosbewachsenen Stein vertraut. Sie dagegen ist nur ein verängstigter Eindringling, allein und überfordert. Sie ist jung und naiv. Er ist älter,
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