Der Wolf
ankündigen würde. Direkt unter den Fensterbänken hatte sie Glasscherben von leeren Spirituosenflaschen verstreut, so dass sich jemand – nein, korrigierte sie sich, so dass sich ein Böser Wolf – Hände und Füße zerschneiden würde, wenn er versuchte, durch ein Fenster ins Haus einzusteigen. An der Treppe zu dem kleinen Keller hatte sie ein paar Zentimeter über jeder Stufe Draht gespannt, so dass der Wolf, falls er diesen Zugang benutzte, darüber stolpern musste. Darüber hinaus hatte sie auf dem Kellerboden alte Kugellager und Murmeln verstreut und die Glühbirne herausgedreht, damit der Raum stockdunkel war und ein Eindringling leicht zu Fall kam. Sie hatte die Waffe ihres toten Mannes immer in ihrer Nähe und überprüfte in regelmäßigen Abständen, ob sie geladen und schussbereit war, auch wenn sie wusste, dass sie schon hundertmal nachgesehen hatte. Rings um ihren Beobachtungsposten türmten sich leere Plastiktüten, Styroporbecher und Flaschen. Mit einem tiefen Seufzer trat Sarah einen Teil des Mülls, der sich zu ihren nackten Füßen türmte, zur Seite.
Das funktioniert nie im Leben, verdammt noch mal.
Ihr Verteidigungssystem schien eine direkte Anleihe aus
Kevin allein zu Haus
zu sein und hatte mehr von einer Komödie als von einer wirksamen Strategie gegen einen Mörder, der sich unbemerkt ins Haus schleichen mochte, um sie abzuschlachten. Sie wusste, dass sie sich kaum noch wach halten konnte, und wenn die Erschöpfung erst siegte, würde sie kein Klappern und Scheppern wecken. Mit dem Nebeldunst von Alkohol und Narkotika kannte sie sich aus.
Vor allem aber war der Böse Wolf zweifellos ein versierter Mörder, ein Profikiller. Auch wenn es dafür keinen Beweis gab, glaubte sie daran. Instinkt. Sechster Sinn. Eine Vorahnung. Sie war sicher, dass er den richtigen Moment abpassen würde, genau den Moment, in dem sie ihm schutzlos ausgeliefert wäre.
Schutzlos. Was für ein erbärmliches, unangemessenes Wort, dachte sie. Höchstwahrscheinlich traf es auf jeden Tag und jede Nacht zu, auf jede Sekunde, ob sie nun schlief oder, die Waffe in der Hand, an der Haustür saß und wartete.
Sie sah sich um. Sie hatte einen steifen Rücken. Ihr tat der Kopf weh.
Alles, was sie zu ihrer Verteidigung unternommen hatte, passte in das Aktionsmuster einer Mittelschullehrerin. Schere, Kleber und bunter Bastelkarton – wie eine Aufgabe im Kunstunterricht. Nur ohne die munter schnatternden Kinder aus der fünften Klasse.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich kräftig in die Hände klatschen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Alle mal herhören! Mrs. Lockley muss sich vor einem psychopathischen Mörder schützen. Jetzt bringen bitte alle ihre Lieblingsmaterialien in die Mitte, und wir bauen eine Mauer, um sie zu beschützen!
Lächerlich, so viel war ihr klar. Sie wusste nur nicht, was sie sonst tun sollte. Wenn man von der Pistole absah, die sie in der rechten Hand hielt.
Vielleicht ist es das Beste, wenn ich das Versprechen gegenüber meinem Mann nicht halte, dachte sie, und kurz bevor der Böse Wolf vor der Tür steht, die Waffe gegen mich selber richte.
Ihr war klar, dass sie sich diese Frage ständig stellte, wenn auch vielleicht nicht laut oder in klar formulierten Worten. So oder so würde sie bald eine Antwort darauf finden müssen.
Sarah brach in bitteres Lachen aus, plötzlich und unerwartet. Also, das wäre wirklich urkomisch, dachte sie, wenn sich der Böse Wolf ins Haus schleicht, um mich zu töten, und feststellt, dass ich ihm zuvorgekommen bin. Was soll er machen? Ein Mörder ohne Opfer. Dann steht er ganz schön dumm da.
Nur dass ich es nicht mehr sehen könnte, weil ich schon tot bin.
Der Text eines Songs geisterte ihr durch den Kopf:
»Nur keine Angst«, sprach der Dieb und fasste sich ans Herz. »Wie viele von uns glauben, ist das Leben sowieso ein Scherz.«
Sie hörte den Gitarren-Riff, als spielte jemand in der Ferne. Sie hörte die rauhe Stimme. Es leuchtete ihr ein. Nur keine Angst.
Sie seufzte tief, doch der Laut ging in einen Schrei über, als sie ein plötzliches Geräusch an der Haustür hörte. Zuerst taumelte sie zur Seite, als könnte sie sich verstecken, dann stolperte sie mit ausgestreckter, schussbereiter Waffe nach vorn. Sie glaubte, dass sie ein paar unartikulierte Schreie von sich gab, doch dann wurde ihr klar, dass all diese Geräusche nur in ihrem Kopf existierten.
Es gibt nichts Schlimmeres, dachte Karen Jayson, als das Getöse der Stille.
Es war
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