Der Wolf
wollte.
Dabei wollte sie es nicht sehen. Sie wollte nicht wissen, worum es ging, doch ihr war klar, dass ihr nichts anderes übrigblieb.
Sie hielt den Brief in der Hand, und als sie plötzlich eine Woge der Übelkeit erfasste, wirbelte sie zur Toilettenschüssel herum, in die sie sich heftig übergab.
Jordan Ellis rollte sich, den Brief in der Hand, auf ihrem Bett ein, als fühlte sie sich mit einem Schlag sehr krank. So verharrte sie fast eine Viertelstunde lang. Sie sah sich die Botschaft kein zweites Mal an. Stattdessen starrte sie durch ihr kleines Zimmer zum Schreibtisch, auf dem der geöffnete Laptop stand.
Es kostete sie eine gewaltige Überwindung, die Beine von der Matratze zu schwingen und sich aufzusetzen. Aufzustehen und einen zögerlichen Schritt Richtung Computer zu machen war ein weiterer Kraftakt. Und als sie schließlich auf den Bürostuhl sackte, musste sie sich noch mehr zusammenreißen, um die Hände zur Tastatur zu heben und die ersten Buchstaben der Webadresse einzutippen, die BW ihr geschickt hatte.
Jeder Buchstabe, jede Zahl und jedes Zeichen drangen ihr wie ein Nadelstich ins Fleisch. Als sie den Link vollständig eingegeben hatte, schrak sie davor zurück, die Eingabetaste zu drücken, die sie in jene Welt katapultieren würde, in der BW sie haben wollte.
Jordan hielt inne. Sie versuchte sich vorzustellen, was mit ihr passieren würde, wenn sie diese letzte Taste tippte, und welche Bedeutung es für ihren Widersacher hatte. Sie fragte sich, ob es ihrer Sache diente oder eher schadete. Ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie sich in eine gefährliche Arena begab, in der ein tödliches Spiel ausgetragen wurde, zu dem sie weder die Regeln kannte noch die nötige Ausrüstung besaß; sie war von Anfang an aufgeschmissen und hatte nicht die geringste Chance zu gewinnen.
Ich bin keine schlechte Spielerin, dachte sie und versuchte, so gut es ging, sich Mut zu machen. Ich schlage mich fast immer recht gut, besser, als er glaubt.
Dennoch zögerte sie. Sie biss sich auf die Lippe, bis es weh tat, dachte schließlich, scheiß drauf!, und haute mit einer wilden Entschlossenheit auf die Taste, dass sie über sich selbst erschrak.
Auf dem Bildschirm erschien das vertraute Logo und die Eingangsseite von YouTube. Auf dem Standfoto des Videos, das sie vor sich hatte, konnte sie nur die Nahaufnahme eines entblätterten, kahlen Baums vor einem bedeckten Himmel erkennen.
Sie hatte keinen Schimmer, worum es ging, und in ihrem Kopf machten sich verworrene Gedanken breit. Was zum Teufel …
Sie bewegte den Cursor zu dem Pfeil »Video abspielen« und klickte.
In dem Fenster auf dem Bildschirm erwachten Bilder zum Leben.
Sie beugte sich vor und sah genau hin.
Zuerst war das Bild verwackelt, als ob es einem Amateur nicht gelungen wäre, die Kamera ruhig zu halten. Dann machte sie einen rasanten Schwenk, und Jordan begriff, dass es ein Wald war. Sie sah Blätter am Boden, dunkle Stämme, die sich zu einem undurchdringlichen Dickicht vereinten, Gebüsch und umgefallene Stümpfe. Doch die Kamera schien sich jetzt schwerelos zwischen den Hindernissen hindurchzubewegen. Hier und da drangen schwache Sonnenstrahlen in die dämmrige Umgebung. Jordan schätzte, dass die Aufnahmen gegen Ende eines bewölkten Tages gemacht worden waren.
Fasziniert starrte sie auf den Film. Offenbar hatte die Person hinter der Kamera keine Mühe, dem eingeschlagenen Weg zu folgen.
Doch Jordan erkannte nichts. Die Aufnahmen mochten in jedem beliebigen Wald entstanden sein.
Plötzlich blieb die Kamera stehen. Ein greller Lichtblitz legte sich über das Bild, und Jordan zuckte zurück, als hätte man ihr eine Ohrfeige versetzt.
Es folgte ein Moment mit körnigen, verwackelten Bildern, bis Jordan erkannte, dass in der Ferne jemand durch den späten Nachmittag lief.
Sie sah das rote Haar.
Sie sah die Fußwege ihrer Schule.
Sie sah sich selbst. Allein.
Sie glaubte, laut losschreien zu müssen. Ihr Mund öffnete sich weit, doch sie brachte keinen Laut hervor.
Die Kamera verweilte auf ihrer Gestalt, bis sie im Wohnheim verschwand. Sie beobachtete, wie die Eingangstür hinter ihr zufiel.
Dann war das Videofenster schwarz.
[home]
11
K aren bemühte sich am Telefon um einen unbekümmerten, natürlichen Ton. Sie hatte die Nummer der Apple-Filiale in einer Einkaufspassage in etwa vierzig Meilen Entfernung gewählt und war mit einem jungen Mann an der »Genius Bar« verbunden worden, der sich ihr als Kyle vorstellte.
»Ich habe
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