Der Wolf
egal, sagte sie sich, ob sie auf der Bühne stand, in ihrer Praxis bei der Arbeit war oder allein zu Hause.
Sie befand sich auf dem Heimweg von der Arbeit. Sie nahm sich jetzt aus Vorsicht reichlich Zeit dafür. Wenn sie vom Highway auf die ruhigeren Landstraßen in Richtung ihres abgelegenen Hauses abgebogen war, fuhr sie rechts heran, sobald sie jemanden hinter sich im Rückspiegel bemerkte, ob Pkw oder Laster oder was auch immer. Erst wenn der andere vorbei war, setzte sie ihren Weg fort. Sie würde darauf achten, dass ihr niemand folgte. Dieses ständige Anhalten, Warten, Weiterfahren sorgte dafür, dass sie nur sehr langsam vorankam, beruhigte sie aber ein wenig. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Es war kein sicherer Hort mehr.
Das Problem war, dass sie mit einem beklommenen Gefühl zu Hause eintraf, auch wenn sie sich immer wieder gut zuredete, dazu gebe es keinen Grund.
Sie blieb an der Einfahrt zu ihrem Grundstück stehen. Durch das Geäst der Bäume konnte sie nur so eben die Umrisse ihres Hauses erkennen, auch wenn die meisten um diese Jahreszeit kein Laub mehr trugen. Dunkle Kiefern und tiefbraune Eichen, die sich wie Wachposten aneinanderreihten, verstellten ihr die Sicht. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte, und bog in die Einfahrt. Wie immer hielt sie am Briefkasten an.
Doch dann zögerte sie.
Wie albern von dir. Hol die Post raus.
Sie wollte nicht aussteigen. Sie wollte den Kasten nicht öffnen. Es war fast so, als rechnete sie damit, dass eine Bombe explodierte, sobald sie es tat.
Es gab keinen Grund anzunehmen, dass der Böse Wolf ein zweites Mal durch die Post mit ihr in Verbindung trat. Aber auch keinen Grund, die Möglichkeit auszuschließen.
Sie versuchte, mit dem Verstand Herr über ihre Gefühle zu werden. Die Disziplin in der Facharztausbildung, erinnerte sie sich, die endlosen Schichten und die zermürbende Erschöpfung, all das hatte sie irgendwie gemeistert.
Na los, steig aus. Hol die Post. Zum Teufel mit ihm. Du kannst einem anonymen Witzbold nicht erlauben, dein Leben derart auf den Kopf zu stellen.
Doch dann fragte sie sich, ob das richtig war. Vielleicht war es ja gerade sinnvoll, ihr Leben von ihm durcheinanderbringen zu lassen.
Karen blieb reglos hinter dem Lenkrad sitzen. Sie sah die Schatten, die wie dunkle Schwerthiebe durch die Bäume schnitten.
Sie war im Zwiespalt zwischen dem Normalen, Gewohnten – der banalen Aufgabe, jeden Tag die Rechnungen, Kataloge und Werbeflyer ins Haus zu holen – und dem Irrationalen. Vielleicht ein zweiter Brief.
Karen nahm den Gang heraus und wartete.
Immer und immer wieder hielt sie sich vor, wie unsäglich albern ihr Verhalten war. Wenn ihr jemand dabei zusähe, wie sie zögerte, einfach nur die tägliche Post hereinzuholen, wäre es ihr zweifellos peinlich.
Der Gedanke half herzlich wenig.
In diesem Moment hätte sie zu gern mit jemandem gesprochen. Plötzlich hasste sie es, allein zu leben, dabei war ihr gerade das so viele Jahre lang besonders wichtig gewesen.
Mit einem letzten Blick in beide Richtungen der Straße stieg sie aus und murmelte vor sich hin, dass sie sich paranoid benehme und ihre Angst unbegründet sei. Dennoch öffnete sie den Kasten sehr behutsam, als erwarte sie, dass sich eine giftige Schlange darin eingerollt habe.
Das Erste, was sie sah, war der weiße Brief, der auf einem leuchtend bunten Modekatalog lag.
Ihre Hand zuckte zurück, als wäre es tatsächlich eine Schlange, bereit, zuzubeißen.
»Jordan, ich mache mir solche Sorgen«, sagte der Direktor in angemessen gewichtigem, ernstem Ton. »Alle Lehrer überrascht Ihr plötzlicher Leistungsabfall. Wir verstehen den Druck, unter dem Sie wegen Ihrer familiären Situation stehen. Aber Sie müssen verstehen, wie wichtig dieses Jahr für Ihre Zukunft ist. Der Wechsel ans College steht an, und wir fürchten, dass Sie Ihre Chancen an den besseren Universitäten verspielen, wenn Sie Ihre Noten nicht schnellstens wieder auf Vordermann bringen.«
Der Direktor klang in Jordans Ohren unglaublich salbungsvoll. Andererseits gehörte die tägliche Dosis an Aufgeblasenheit zur Daseinsberechtigung eines jeden Direktors, und es war ihm letztlich kein Vorwurf zu machen, wenn er sich so verhielt, wie man es von ihm erwartete.
Wenn dich ein tollwütiger Hund beißt, ist das Tier daran schuld? Wenn ein Kaninchen vor einem davonläuft, verhält es sich dann dumm? Wenn dich ein Mörder töten will, kommt
Weitere Kostenlose Bücher