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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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das wirklich überraschend?
    Jordan war wohl dabei, zur Philosophin zu werden. Sie hörte nur halb hin, als der Direktor fortfuhr, seine Kritik mit Ermutigung garnierte und davon auszugehen schien, dass die richtige Mischung aus Zuspruch und Sympathie mit dem Ausblick auf eine selbstverschuldete düstere Zukunft sie dazu bewegen würde, sich zusammenzureißen und ihr Leben wieder auf Kurs zu bringen.
    Wieder auf Kurs.
Diese und ähnliche Phrasen hatte sie in der letzten Zeit oft zu hören bekommen. Anfangen konnte sie damit herzlich wenig.
    Sie sah sich im Büro um. Es gab ein Eichenregal mit Büchern, der braune Schreibtisch passte dazu. An einer Wand hingen neben Kinderzeichnungen, die dem Raum ein paar Farbtupfer verliehen, gerahmte Diplome. Auf einem Foto lächelte der Direktor im Kreis seiner glücklichen Familie bei einer Kanufahrt, auf einem zweiten posierten sie Arm in Arm vor dem Grand Canyon; das letzte war eine Montage, der sie auf dem Gipfel eines Berges zeigte. Eine aktive, unternehmungsfreudige, harmonische Familie. Das Gegenteil von ihrer eigenen. Ihre Familie ging gerade in die Brüche.
    Etwas, das er sagte, riss sie aus ihren Gedanken.
    »Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen, Jordan?«, fragte der Direktor.
    Erst jetzt merkte Jordan, dass sie auf ihrem Stuhl ein wenig vorgebeugt saß und die Arme eng an den Bauch gedrückt hielt, als hätte sie Schmerzen. Bedächtig wechselte sie die Stellung, um nicht so schwach zu wirken.
    »Ich werde mich mehr anstrengen«, sagte sie.
    Der Direktor zögerte. »Ich weiß nicht, ob es darum geht, sich mehr anzustrengen. Ich denke, es geht darum, sich wieder auf den eigenen Werdegang zu konzentrieren.«
    »Ich werde mich besser konzentrieren«, sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf, wenn auch kaum merklich.
    »Sie müssen versuchen, zu einigen Dingen, die Sie ablenken und belasten, Abstand zu gewinnen und sich auf das zu konzentrieren, was für Sie selbst wichtig ist.«
    »Ich werd’s versuchen«, antwortete sie. Und verkniff sich die Frage: Glauben Sie nicht, verflucht noch mal, dass für mich vor allem wichtig ist, am Leben zu bleiben?
    »Wir wollen Ihnen alle helfen, Jordan, weil es von entscheidender Bedeutung für Ihre Zukunft ist, diese schwierige Zeit zu überstehen.«
    Vielleicht habe ich keine Zukunft.
    Sie holte tief Luft und riss sich zusammen.
    Der Direktor war eigentlich ganz in Ordnung. Er meinte es gut mit ihr. Sie spürte einen Anflug von Neid. Sie glaubte nicht, dass ihre Eltern an irgendeiner Wand Bilder von ihr oder einer gemeinsamen Unternehmung aus glücklicheren Zeiten hängen hatten.
    Sie dachte nach. Ihr war klar, dass dies – wenn überhaupt – der Moment war, den Bösen Wolf zur Sprache zu bringen.
    Du meinst, ich bin nur wegen der Schlammschlacht meiner Eltern so am Arsch? Von wegen. Die können mich mal. Aber da draußen läuft ein Kerl herum, der mich für Rotkäppchen hält und mich fressen will. Nicht im wörtlichen Sinne. Er wird mich nur töten. Läuft aufs Gleiche hinaus.
    Doch sie sagte es nicht. Es klang einfach zu irre.
    Eine Stimme in ihrem Kopf brüllte: Ihr wollt mir alle helfen? Gut, dann besorgt mir eine Knarre. Einen Bodyguard. Holt die verdammten Marines zu Hilfe. Vielleicht können die mich ja beschützen!
    Keiner dieser wütenden Gedanken kam ihr über die Lippen. Stattdessen erwiderte sie ruhig: »Ich werde mir Mühe geben.«
    Sie sprach in gedämpftem Ton, fast wie im Beichtstuhl, dachte sie, nur dass sie noch nie in einem Beichtstuhl gesessen hatte und auch nicht die Absicht hegte, daran in nächster Zukunft etwas zu ändern.
    Es war nicht die richtige Antwort, und sie sah die Enttäuschung in den Augen des Direktors. Das gefiel ihr. Wenigstens war er nicht verlogen.
    Sie machte den Mund wieder auf, um das, was sich an Unglück zusammengebraut hatte – über ihre Eltern, über ihr Versagen, über ihre Isolation und schließlich ihre Angst, verfolgt zu werden und auf einer Todesliste zu stehen, ohne etwas dagegen tun zu können –, doch noch loszuwerden. Sie hatte schon die ersten Worte auf den Lippen, als sie es sich anders überlegte.
    Fast hätte sie laut aufgeschluchzt.
    Wenn ich ihm von diesem Irren erzähle, dann schnappt sich der Wolf vielleicht ihn zuerst.
    Sie sah sich noch einmal um. Glückliche Familienfotos. Sie konnte die Leute nicht der Gefahr aussetzen.
    Sie sah, wie sich der Direktor zu ihr vorbeugte. Die meisten Menschen hätten darin eine Geste der Besorgnis gesehen. In ihren Augen hatte es

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