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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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klüger und weitaus raffinierter. In Wahrheit könnte der Wolf sie, während sie hilflos durch das Dornengestrüpp und dunkle Dickicht stolpert, jederzeit töten. Doch das wäre viel zu einfach. Es würde das Töten zu einer Alltäglichkeit machen. Banal. Er muss sich heranschleichen. Er muss vor dem Mord die unmittelbare Kommunikation suchen. Das sind die Momente, in denen die Erfahrung des Tötens so lebendig wird. Ohren. Augen. Nase. Zähne. Er will das Zittern der Ungewissheit in ihrer Stimme hören und das Herzrasen spüren. Er will sehen, wie sich ihr Gesicht in Panik verzerrt, als sie langsam begreift, was passieren wird. Er will ihre Angst riechen. Und zuletzt will er all die Intimität in den Klauen halten … bevor er schmeckt, wovon er geträumt hat, und die Zähne fletscht.
    Er hatte schnell getippt, doch als er das Wort
Zähne
schrieb, rutschte er abrupt auf seinem Bürostuhl zurück und beugte sich ein wenig vor. Er rieb die Handflächen fest an seiner alten Cordhose, spürte die abgewetzten Rippen des weichen Stoffs unter der Haut und erzeugte auf dieselbe Weise Wärme, wie man eine Flamme entzündet, indem man Stöckchen aneinanderreibt. Er wünschte, er könnte in diesem Moment unmittelbar neben jeder Roten stehen und die Wirkung seines zweiten Briefs mit eigenen Augen verfolgen. Der Wunsch war so stark, dass es ihn nicht mehr auf seinem Stuhl hielt. Wie ein Boxer, der seinen Gegner verletzt hat, im selben Moment dessen nachlassende Widerstandskraft wittert und daraufhin unablässig nachsetzt, ohne das Getöse aus den Zuschauerreihen und das Läuten der Rundenglocke zu hören, schlug er eine Reihe schneller, kurzer Hiebe in die Luft.
     
    Keine der drei Roten wandte sich sofort dem YouTube-Link zu, der mit der Post gekommen war. Jede starrte auf den Umschlag und riss ihn erst auf, als die Unentschlossenheit wie ein Schrei, der ihnen im Halse stecken blieb, nicht mehr auszuhalten war. Jede von ihnen starrte auf den Brief und die Zahlenhieroglyphen in der Mitte des jeweiligen Blatts. Aus einer Minute wurden zwei, aus zwei wurden zehn.
    Jede Rote hatte das Gefühl, endgültig die Kontrolle zu verlieren.
     
    Karen Jayson ließ das Blatt in den Schoß sinken. Sie war zurück in den Wagen gestiegen, hatte die Türen verriegelt und eine ganze Weile starr dagesessen, bis sie den Mut fand, den Umschlag zu öffnen und das Blatt aufzufalten, das eine einzige Zeile enthielt. Dann hatte sie das Lenkrad so fest umkrallt, dass sich die Finger verkrampften. Vor Angst verlor sie jedes Zeitgefühl, fast so, als sei sie ohnmächtig geworden oder in eine Art Wachkoma gefallen. Sie starrte durch die Windschutzscheibe die Einfahrt hinauf, konnte jedoch die Bäume, den gewundenen Kiesweg und die Silhouette ihres Hauses dahinter nicht mehr sehen. Sie taumelte an einem anderen Ort am Abgrund der Panik. Als sie sich schließlich in einem qualvollen Willensakt in die Welt zurückhangelte, wurde ihr bewusst, dass der Wolf ihr mit dem, was sie sich ansehen sollte, in Kürze einen weiteren Schlag versetzen würde.
    Sie konnte weder ihre Gefühle noch ihre Gedanken ordnen. Für eine Frau, die sich etwas darauf zugutehielt, einer Situation mit profundem Wissen und mit Fakten zu begegnen, konnte kaum etwas beängstigender sein. Sie glaubte, sie würde das Lenkrad mit den Händen zerbrechen, doch dann legte sie mit Wucht den Gang ein, stampfte aufs Gaspedal und ließ den Kies in alle Richtungen spritzen, als sie mit durchdrehenden Reifen losfuhr, als könnte sie so ihren Gefühlen entfliehen.
     
    Sarah Locksley versteckte sich im Badezimmer.
    Sie schloss die Tür hinter sich ab, schleppte sich zum Waschbecken, wo sie kaltes Wasser einlaufen ließ und sich ins Gesicht spritzte, das sich mit ihren Tränen vermischte.
    Der Atem drang keuchend aus der Brust. Ihre Hände am kalten Porzellan fühlten sich klamm an. Sie merkte, wie ihr Griff nachließ und ihr schwindelig wurde. Das muss von dem Fusel und den Pillen kommen, versuchte sie sich einzureden, obwohl sie wusste, dass die Angst daran schuld war.
    Ganz allmählich verlor sie das Gleichgewicht, als sickerte das, was sie aufrecht hielt, wie Blut aus einer Wunde.
    Sie blickte auf das Blatt Papier. Am liebsten hätte sie es zusammengeknüllt, in die Toilette geworfen und wie ein Stück Klopapier hinuntergespült. Doch so verlockend der Gedanke war, wusste sie, dass sie ihn nicht in die Tat umsetzen würde.
    Jedenfalls nicht, bevor sie gesehen hatte, was der Wolf ihr zeigen

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