Der Wolf
Zwar ließ sich hier nicht feststellen, wie Rangwechsel
zustande kamen und was alles dabei geschah, auch nicht,
wann sie stattfanden. Es wurde nur in jedem Winter versucht, die Alpha-Tiere für die verschiedenen Rudel auf der
Insel zu identifizieren. Dabei stellte sich heraus, daß es
bei den Rüden häufiger zu einem Wechsel gekommen war
als bei den Weibchen. Außerdem wurde keines der ehemaligen Alpha-Tiere später im Rudel noch gesehen. Wie
auch in unserem Rudel bedeutete also dort der Verlust der
Alpha-Stellung entweder den Tod oder, auf jeden Fall, den
Fortgang vom Rudel. Die wenigen Daten von Isle Royale
schließen Zufälligkeiten ebenfalls nicht aus. Da die Tendenz aber ähnlich ist wie bei unserem Rudel, können wir
ihnen doch ein gewisses Gewicht beimessen. Danach kommt
es in relativ kurzen Abständen zum Wechsel auf einer der
beiden höchsten Positionen im Rudel, und ein reproduzierendes Paar bleibt nicht mehr als einige Jahre zusammen.
Da, wie gesagt, dieser Wechsel eine Zeit erhöhter Instabilität bedeutet, ist anzunehmen, daß auch die Lebensdauer
der Rudel – oder wenigstens die Zeit totaler Exklusivität
– beschränkt ist und damit eine über viele Generationen dauernde Inzucht in der Regel nicht stattfindet. Weiter scheinen
diese Beobachtungen die unsrigen zu bestätigen, wonach
ein Wolfsrudel, in dem der Alpha-Rüde eine scheinbar so
hervorragende und zentrale Rolle spielt, in Wirklichkeit ein
Matriarchat darstellt. Das Alpha-Weibchen, die Mutter der
Welpen, ist das wirklich zentrale und das Geschehen des
Rudels bestimmende Tier, das für kürzere oder längere Zeit
einen oder mehrere adulte Rüden um sich versammelt als
Väter, Futterbesorger und Beschützer seiner Kinder.
Zehntes Kapitel
Zur Ökologie des Wolfes
Eine Analyse tierischen Verhaltens ohne Kenntnis der Ökologie freilebender Populationen bleibt unvollständig. Umgekehrt sind Kenntnisse des Verhaltens der Wölfe unentbehrlich für die Untersuchung ihrer Ökologie. Das Grenzgebiet
zwischen der Verhaltensforschung und der Ökologie wurde
bisher »Etho-Ökologie« beziehungsweise »Öko-Ethologie«
genannt, je nach dem Ausgangspunkt der Fragestellung.
Wir haben uns bisher mit dem Verhalten der Wölfe anhand
meiner Arbeiten mit den Gehegetieren beschäftigt. Die
ökologischen Untersuchungen an freilebenden Wolfspopulationen wurden vor allem von amerikanischen Kollegen
durchgeführt. Der interessierte und englischkundige Leser
findet eine Liste ihrer wichtigsten Veröffentlichungen im
Anhang. Ich werde hier einige der amerikanischen Kollegen und ihre Arbeitsweise vorstellen und die wichtigsten
Ergebnisse zusammenfassen.
Forschungsstätten
Wölfe in Nordminnesota
Dave Mech traf ich zum erstenmal 1973 nach der Internationalen Ethologentagung in Washington, D.C. Er holte
mich vom Flughafen in Minneapolis ab, und noch am selben Tag fuhren wir zusammen mit seiner Frau und den
vier Kindern in den Norden von Minnesota, seinem Untersuchungsgebiet. Schon auf der Fahrt redeten wir über die
uns gemeinsam interessierenden Fragen : Wie optimiert
ein Wolfsrudel seine Größe ? Welchen Einfluß haben die
räumliche Organisation und das entsprechende Verhalten
auf die Regulation der Wolfspopulation ? Wie viele Freilandökologen war auch Dave zunächst skeptisch eingestellt
gegenüber Ethologen, die, wie er meinte, aufgrund einiger
Beobachtungen und Versuche an Gehegetieren »die Welt
zu erklären suchen«. Bald aber wurde es eine sehr anregende Diskussion, da unsere Ergebnisse weitgehend übereinstimmten. Nicht die ranghöchsten Jungwölfe sind es,
die das Rudel wegen ihrer Konkurrenz mit dem Alpha-Tier
verlassen, wie oft behauptet wurde, sondern die rangniedrigeren Wölfe ; nicht »autoritär«, sondern eher »demokratisch« wird das Rudel geführt. Die Aggressivität des AlphaWeibchens, Futterangebot und Bindung – diese und viele
weitere Phänomene, die isoliert betrachtet so unwichtig zu
sein scheinen, sind für das Verständnis der Populationsregulation von größter Bedeutung. Erst spät in der Nacht
kamen wir auf der Versuchsstation an, wo Daves Mitarbeiter uns erwarteten. In dem schönen großen Holzhaus
bekam ich ein Zimmer, während Dave und seine Familie
in ein Zelt einzogen. Ich staunte. Familienmitglieder von
Staatsbeamten (Dave ist bei der obersten Naturschutzbehörde angestellt) seien im Haus unerwünscht, wurde mir
erklärt. So plagten sich Daves Frau und die Kinder draußen
mit den vielen Mücken ab, während ich
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