Der Wolf
erheblichen und langfristigen Veränderungen des Nahrungsangebots und seiner Verteilung
dürfte sich auch die räumliche Organisation einer Population verändern. An dieser Stelle kann ich es doch nicht
lassen, einen Vergleich zwischen Mensch und Tier zu ziehen. Wie bei den Wölfen kennen wir auch bei allen anderen Tierarten (mit Ausnahme mancher Insekten, etwa der
Ameisen, bei denen allerdings ganz andere Fortpflanzungsund Verwandtschaftsverhältnisse vorliegen) nichts, das vergleichbar wäre mit dem, was wir bei den Menschen Krieg
nennen: eine mit tödlichen Waffen ausgetragene Auseinandersetzung zwischen überfamiliär organisierten Verbänden wie Völkern, Stämmen, Staaten oder Klassen. Daher
sind die Versuche, das Phänomen menschlicher Kriege mit
Hilfe ethologischer Aggressionsmodelle zu erklären, zum
Scheitern verurteilt. Tierische Aggression und menschliche
Kriege mögen als Kampf um Ressourcen wie Land, Nahrung oder Macht (Rang) letztlich vergleichbare Ursachen
haben ; doch bei einem Vergleich der Motivation der an
der Auseinandersetzung teilnehmenden Individuen zeigen
sich die fundamentalen Unterschiede. Tiere handeln infolge
des Selektionsvorteils »eigennütziger« Gene grundsätzlich
egoistisch. Auch scheinbar uneigennütziges Verhalten dient
letztlich nur der eigenen Gesamteignung, ist also im Grunde
auch egoistisch. Wirklich altruistisches, sich selbst aufopferndes Verhalten zugunsten der Belange überfamiliärer
Organisationseinheiten gibt es nur bei Menschen. Die Ursachen hierfür liegen nicht im biologischen, sondern im kulturellen Bereich. Wie es zu einer derartigen, der biologischen teilweise entgegengerichteten kulturellen Evolution
aufopfernden Verhaltens kam – mit all ihren für uns positiven wie negativen Folgen –, ist wohl eine der interessantesten und weitgehend ungelösten Fragen der Menschheitsgeschichte. Für den Biologen jedenfalls bleibt die Frage offen,
wie Menschen dazu gebracht werden können – aus welchem
Grund auch immer –, andere Menschen zu töten, bei der
erheblichen Gefahr, selbst getötet zu werden.
Über all dies haben Dave und ich bei unserer Suche nach
dem nächsten Wolf natürlich nicht diskutiert; es ist mir beim
Schreiben in den Sinn gekommen. Selber Biologe, ärgere
ich mich über manche allzu biologistischen und auch psychoanalytischen Deutungen menschlicher Massenkonflikte,
da sie, wie ich meine, die wirklichen Ursachen moderner
Kriege verschleiern helfen, indem sie erklären, diese Massenkonflikte seien eine Form aggressiven Verhaltens, das
in der Natur des Menschen liege.
Doch zurück zu den Wölfen. Der letzte Wolf, den wir
suchten, war ein etwa zwei bis drei Jahre alter Rüde, der
sich von seinem Rudel abgesetzt hatte und seit Wochen in
südwestlicher Richtung auf Wanderschaft war. Wir fanden
ihn schließlich, weit außerhalb des geschlossenen Waldgebietes, in einem Waldstück in der Nähe einer größeren
menschlichen Siedlung. Nach der Regelmäßigkeit des Signals
zu urteilen, schlief er fest irgendwo im Gebüsch, so daß wir
ihn nicht zu Gesicht bekamen. Auf seinen Wanderungen
mußte er mehrmals Straßen, Eisenbahnlinien und sogar
eine Autobahn überquert haben. Dave war nicht gerade
glücklich darüber, denn Wölfe in dichter besiedelten Gebieten müssen geradezu in Konflikt mit menschlichen Interessen kommen. Allein schon ein getöteter Hund, ein gerissenes Schaf würden den erklärten Gegnern des Wolfes Auftrieb geben und seinen gerade mühsam erreichten Schutz
in Minnesota wieder in Frage stellen.
Dave mußte am nächsten Tag seine Familie der Schule
wegen nach Hause bringen. Ich blieb noch einige Tage, begleitete seine Mitarbeiter bei den täglichen Arbeiten und lockte,
wie schon berichtet, von einem Baumsitz aus durch Heulen fünf kleine Welpen aus ihrem Versteck hervor. Dann
reiste ich zurück nach Europa.
Wölfe auf Isle Royale
Zwei Jahre später war ich wieder in Minnesota, diesmal
zusammen mit meinem Freund Luigi Boitani, dem italienischen Kollegen vom Abruzzen-Wolfsprojekt. Wie letztes Mal flogen wir mit Dave Mech zunächst Wölfe suchen,
und dann brachte er uns nach Isle Royale, der Insel, wo
seine Arbeit mit Wölfen einst begonnen hatte. Isle Royale
ist eine 544 Quadratkilometer große Insel im Oberen See,
gerade 24 Kilometer vom nördlichen, kanadischen Ufer
entfernt. Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Insel von
Elchen besiedelt, und 1949 kamen zum erstenmal Wölfe
über eine Eisbrücke auf die Insel. 1959 begann
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