Der Wolf
Dave, unter
der Leitung von Durward Allen, als erster eine der längsten kontinuierlichen Untersuchungen über die Entwicklung einer Räuber-Beute-Beziehung, die wir in der ökologischen Wissenschaft kennen. Heute wird sie von Rolf
Peterson weitergeführt mit derselben Fragestellung : Welche zahlenmäßigen Beziehungen bestehen auf der Insel
zwischen der Vegetation, dem einzigen großen Pflanzenfresser, dem Elch, und dem einzigen Beutegreifer des Elchs,
dem Wolf?
Ich wußte, daß man auf Isle Royale der natürlichen Entwicklung völlig freien Lauf läßt, ohne jeden Eingriff des
Menschen. Diese natürliche Entwicklung sah indessen ganz
anders aus, als ich gedacht hatte. Eine »Moose-Spruce Savanna« (Elch-Fichten-Savanne) nannten es Peterson und
seine Mitarbeiter. Die Elche hatten buchstäblich alles, was
ihnen schmeckte, kahlgefressen. Nur die Fichten – dort wie
in Europa der letzte Baum auf der Speisekarte des Schalenwildes – waren an vielen Stellen übriggeblieben. Durch
Brände waren zwar immer wieder neue Äsungsgebiete entstanden, so daß der befürchtete Zusammenbruch der Elchpopulation nicht eingetreten war. Doch nirgends ist mir so
deutlich geworden, daß die großen Pflanzenfresser, wie hier
die Elche, nicht vom Wolf zahlenmäßig beschränkt werden, sondern in erster Linie vom Vegetationsangebot. Das
heißt auch : Nicht der Wolf bestimmt die Größe des Elchbestandes, sondern die Elche bestimmen den Bestand der
Wölfe. Ich komme darauf zurück.
Im Algonquin Park
Von Isle Royale flogen Luigi und ich weiter nach Toronto,
wo wir Doug Pimlott trafen. Er war Vorsitzender der Wolfsgruppe der IUCN Survival Commission (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources),
und wir kannten ihn schon von seinem Besuch bei uns
in den Abruzzen. Er war gerade aus der Arktis zurückgekehrt, wo er die ökologischen Folgen der Ölbohrungen
im Eismeer untersucht hatte, und erzählte uns voller Sorge
über die möglicherweise katastrophalen Folgen eines Ölteppichs unter der Eisdecke (eine Sorge, die Jahre später beim
Exxon-Unglück an der Küste Alaskas traurige Realität werden sollte). In den Algonquin Park konnte er leider nicht
mitkommen. So fuhr ich, während Luigi Freunde in New
York besuchte, allein dorthin und wanderte, von einem
Mitarbeiter Pimlotts geführt, einige Tage durch das Gebiet.
Das Ökosystem hier ist in bezug auf die Artenzusammensetzung des Waldes, die großen Pflanzenfresser und den
größten Beutegreifer, den Wolf, ähnlich wie in Nordminnesota und auf Isle Royale; aber die ökologischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern der Nahrungskette
sind doch wieder ganz andere. Es wurde mir hier besonders klar, daß jedes komplexe Ökosystem spezielle Zusammenhänge aufweist. Der Versuch, induktiv allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, kann daher vorerst nur
zu sehr groben Modellen führen. In diesem Sinne soll auch
das folgende verstanden werden.
Beutetiere und Jagdweise der Wölfe
Als Näschen ausgerissen war, fand ich in seinem Kot Insektenreste. In den Abruzzen haben wir die Wölfe auf Abfallhaufen Spaghetti mit Tomatensoße und Tierkadaver fressen sehen, und aus der kanadischen Arktis wird berichtet,
daß Wölfe sich dort längere Zeit von Lemmingen ernährt
haben sollen. Der Wolf scheint demnach ein Allesfresser
zu sein. Dennoch hat er nur in Gebieten überlebt, in denen
ein genügendes Angebot größerer Beutetiere – von Biber,
Reh oder Schaf aufwärts – zur Verfügung stand. Alle bis
jetzt durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß Beutetiere dieser Größenordnung langfristig den weitaus größten
Anteil der Wolfsnahrung ausmachen und daß Wühlmäuse
oder häusliche Abfälle nur kurzfristig oder als Ergänzung
der Ernährung des Wolfes dienen können. Der errechnete
Futterbedarf des Wolfes macht klar, warum ihm kleine
Beutetiere nicht genügen können.
Beutekonkurrenz
In freier Wildbahn wurde ein täglicher Nahrungskonsum
von 2,5 bis 10 Kilogramm je Wolf errechnet. Gefangenschaftswölfe können durch etwa 1 Kilogramm Futter je
Tag gesund ernährt werden ; doch werden hier in der Regel
minderwertige Bestandteile, wie schwere Knochen, Fell,
Mageninhalte und so weiter, nicht mitgerechnet. Außerdem bewegen sich die meisten Gefangenschaftstiere weniger, und häufig steht ihnen ein warmer Unterschlupf zur
Verfügung. In freier Wildbahn braucht der Wolf also mehr.
Wenn wir eine Mindestmenge von rund 2,5 Kilogramm
Futter ansetzen, müßte
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