Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
ausgeben. Aber auch diese Hoffnung hatte sich in Luft aufgelöst, nachdem – Woche um Woche – überhaupt keine Händler durch Fetterford gekommen waren. Angesichts des Aufruhrs in Tamron zogen die meisten Reisenden es wohl vor, die sumpfigen Fens und die unheimlichen Wasserläufer zu meiden und stattdessen den direkteren Weg über den Marisa-Pines-Pass und Delphi zu wählen.
Ein Schatten fiel auf Raisas Tisch. Simon, der Sohn des Schankwirts, stand wieder da und wartete. Wie immer musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um zu fragen, ob er ihren Teller wegräumen dürfe. Meistens dauerte es eine Stunde, bis er mal drei Worte sagte.
Raisa vermutete, dass Simon in ihrem Alter war, vielleicht sogar etwas älter, aber in letzter Zeit fühlte sich Raisa deutlich älter als sechzehn – zynisch und abgespannt und voller Liebeskummer.
Du würdest dich nicht wirklich mit mir einlassen wollen, dachte sie mürrisch. Ich kann dir nur raten, dich einfach umzudrehen und die Beine in die Hand zu nehmen.
Noch immer verfolgte Han Alister sie in ihren Träumen. Manchmal wachte sie bei Nacht auf und spürte seine Küsse auf ihren Lippen, spürte die Erinnerung an das Brennen auf ihrer Haut, wenn er sie berührt hatte. Bei hellem Tageslicht dagegen konnte sie sich kaum vorstellen, dass ihre kurze Romanze überhaupt stattgefunden hatte. Oder dass er noch an sie dachte.
Als Raisa Han das letzte Mal gesehen hatte, hatte Amon Byrne ihn mit dem Schwert in der Hand davongejagt. Und dann war sie von der Akademie verschwunden, ohne irgendeine Nachricht zurückzulassen – verschleppt von Micah Bayar. Han hatte bestimmt keine netten Erinnerungen an das Mädchen, das er als Rebecca kannte. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, dass sie ihn jemals wiedersah.
Inzwischen war fast Sperrstunde, und ein weiterer Tag war nutzlos verstrichen, während sich zu Hause die Ereignisse überschlugen – ohne sie. Vielleicht war sie ja bereits enterbt worden. Vielleicht hatte Micah den Fängen Gerard Montaignes entkommen können; vielleicht fügte er sich genau in diesem Moment in die Pläne seines Vaters, ihre Schwester Mellony zu heiraten.
Jemand räusperte sich dicht bei ihr. Sie schreckte zusammen und sah hoch. Es war Simon.
»Mylady Brianna«, sagte er zum zweiten Mal.
Bei den Gebeinen , dachte sie. Ich muss mir endlich angewöhnen, auf den Namen Brianna zu reagieren.
»Diese Damen da drüben möchten gern, dass Ihr Euch zu ihnen an den Tisch setzt«, sprach Simon weiter. »Sie sagen, dass es für eine Dame ziemlich unangenehm sein kann, ganz allein zu essen. Ich habe ihnen gesagt, dass Ihr bereits gegessen habt, aber …« Er zuckte mit den Schultern; seine Hände hingen an den Seiten herunter wie zwei Schinken.
Raisa sah zu den beiden Frauen aus Tamron hinüber. Sie saßen nach vorn gebeugt da und verfolgten das Gespräch mit erwartungsvollen Mienen. Frauen in Tamron, so hieß es, waren verzärtelte Treibhauspflanzen, die zwar gesellschaftlich skrupellos waren, körperlich jedoch zartbesaitete Wesen, die im Damensattel ritten und sich mit Schirmen vor der südlichen Sonne schützten.
Trotzdem war der Gedanke verlockend, sich einmal mit jemand anderem als Simon zu unterhalten – mit Menschen, die selbst etwas zur Unterhaltung beisteuern konnten. Und vielleicht hatten sie sogar neue Informationen über das Geschehen in Tamron Court.
Aber es war besser, wenn sie es bleiben ließ. Simon die Geschichte einer in der Grenzstadt gestrandeten Händlerin aufzutischen, war eine Sache. Simon wollte zum Narren gehalten werden. Sich mit hochgeborenen Damen an einen Tisch zu setzen, die begierig darauf waren, Geheimnisse aufzuspüren, war eine ganz andere Sache.
Raisa lächelte ihnen zu und schüttelte dann bedauernd den Kopf, wobei sie auf die Reste ihres Essens deutete. »Sag ihnen, dass ich ihnen danke, aber mich schon bald zurückziehen werde«, sagte sie.
»Hab ihnen schon gesagt, dass Ihr so was sagen würdet«, entgegnete Simon. »Aber sie sagten, ich soll Euch sagen, dass sie ein Ang … eine Arbeit für Euch haben. Sie wollen Euch als Begleitung für die Reise über die Grenze anheuern.«
»Mich?«, platzte Raisa heraus. Sie war nun wirklich nicht der Typ, der sich als Leibwächter eignete, so schlank und feingliedrig wie sie war.
Sie starrte die Frauen an und dachte nach, während sie an ihrer Unterlippe knabberte. Nicht allein zu reiten wäre sicherer, aber die Frauen würden Raisa nicht viel Schutz bieten. Zwar mochten ihre
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